Deutsche Digitalisierung
In Deutschland läuft die Digitalisierung zwischen digitalem Hochdruck-aktivismus und angezogener Digitalisierungsbremse sowie am Problem vorbei. Drei Beispiele.
ereits ein paar Jahre ist es her, dass Thorsten Dirks – damals CEO bei Telefónica Deutschland – sagte: „Wenn Sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben Sie einen scheiß digitalen Prozess.“Wir müssen uns der Digitalisierung stellen, sie in sinnvolle Bahnen lenken. Aber auch dort einfordern, wo Digitalisierung verschleppt wird. Manchmal mangels Kompetenz. Manchmal im Dienste des Datenschutzes.
Der bevorstehende dritte Coronaherbst wird uns zeigen, dass Schulen nicht schließen dürfen, weil Schüler:innen immer noch nicht digital unterrichtet werden können. Zudem hinkt die Digitalisierung im Gesundheitswesen hinterher. Impfregister? Fehlanzeige. Abrechnungssysteme, die dem Missbrauch Tür und Tor öffnen, sowie Patient:innen-daten auf Servern in Deutschland, die aber remote aus den USA administriert werden. Und nicht zuletzt eine Corona-warn-app, die nicht mehr warnen kann.
Das anlaufende Weihnachtsgeschäft wird zeigen, welche Unternehmen die Digitalisierung nutzen, um nicht mehr über Zwischenhändler (B2B), sondern direkt an die Kund:innen (D2C) zu verkaufen. Ein Beispiel dafür ist die Sportmarke Nike, bei der Tim Cook im Aufsichtsrat sitzt. Nike verkauft längst personalisierte Laufschuhe, während andere noch Angst vor Kannibalisierung haben oder Rücksicht nehmen auf interne Widerstände.
Damit kommen wir zur angezogenen Digitalisierungshandbremse der deutschen Automobilindustrie. Bei Mercedes etwa kostet die dauerhafte Smartphone-integration mindestens 357 Euro, auf diese Weise kann Apple Carplay als digitales Produkt nachträglich freigeschaltet werden. Nachdem BMW massive Kritik einstecken musste für Carplay im Monatsabo, testet das Unternehmen nun neue Aboprodukte, die digital freigeschaltet werden können: Sitzheizung! Die Heizdrähte befinden sich im Sitzpolster und dennoch entscheidet deine Kreditkarte, ob der zugehörige Knopf funktioniert. Die Hardware ist vorhanden, aber als In-appkauf – sorry: In-car-kauf schaltest du einen Gang höher mit beheiztem Lenkrad, Fernlicht-assistenz und Video-aufzeichnung der Autokameras.
Volkswagen verkauft jetzt Fahrzeuge ohne Zwischenhändler – wie Tesla, aber mit Carplay. Volvo – längst in chinesischer Hand – bietet das komplette Fahrzeug im Abo. Elektronische Assistenzsysteme und digitale Vernetzung spielen eine immer größere Rolle bei modernen Fahrzeugen und gleichzeitig bleibt die Sicherheit auf der Strecke, wenn die Autoschlüssel auf offenen Frequenzen funken und ihre Signale kopiert werden können. Das ist Digitalisierung an den Kund:innen vorbei.
Matthias Parthesius lebt und schreibt in Hamburg über Technik, Gesellschaft und Zukunft.