Madame

LA EXTRAVAGAN­ZA

Die Fashion-Welt prasentier­t so viel Mut. Humor und Flamboyanz wie lange nicht. Eine Einladung zu mehr Lebenslust und Widerstand­igkeit, die wir dringend annehmen sollten nicht nur modisch

- KERSTIN HOLZER

Humor und Flamboyanz: Die Fashion-Welt lädt uns zu mehr Lebenslust und Mut ein – wir machen gern mit

LLasst uns träumen: Es ist Sommer, der Asphalt duftet noch nach dampfigem Platzregen. Schnell das Fahrrad am Laternenpf­ahl anschließe­n, die Tür in die Bar aufstoßen und: hinein! Ins Flirren und Vibrieren von Stimmen und Lachen und Musik, Vorsicht, nicht den Kellnern im Weg stehen, die mit Gläsern und Tellern beladene Tabletts vorbeibala­ncieren. Ah, dort ist der Tisch mit den Freunden – die Party beginnt. So wird es sich anfühlen, denn jeder Schritt aus dem heimischen Gefängnis wird uns wie ein Fest erscheinen, sobald sich die Tore zur Welt wieder öffnen – und das wird geschehen.

Was werden wir dann tragen? Auf den Haute-Couture-Schauen und Fashion Weeks des Frühlings haben die Modedesign­er*innen, sträflich unterschät­zt als Psychologe­n und Motivation­s-Coachs, schon ihre Parole für den Rest des Jahres 2021 ausgegeben: „Let’s get loud!“. So viel Farbe, Opulenz und Mut waren lange nicht. Tom Ford zeigte Minikleide­r, „shortest of short“, in Eyecatcher-Violett. Valentino animierte zu gleißend-goldenen PlateauHee­ls, die auf Trab bringen, sowie raumgreife­nden Hoppla-jetzt-komm-ich-Röcken, genau wie Chanel. Und wer Schiaparel­lis Conversati­on Pieces (amüsante Ohrringe und Taschen, viel sexy Pink) nicht als Intro nutzt, dem ist flirttechn­isch nicht zu helfen. Wie philosophi­ert der 24-jährige Charles de Vilmorin, neuer Fashion Director von Rochas, so verwegen? „Man braucht keinen besonderen Anlass, um etwas Besonderes zu tragen.“

Jetzt schlägt die Stunde der Extravagan­z – und wenn die Mode das behauptet, sollte man zuhören. Denn Fashion ist ja nicht mehr Bestimmer von Trends, sondern Seismograf für Sehnsüchte, von denen man nichts ahnte oder die man erfolgreic­h verdrängt hat. Monatelang funktionie­rten wir tapfer in Video-Calls, unten praktische Loungewear, oben crispe, Frische heuchelnde Hemden, derweil die Stimmung in den Keller rutschte wie der Konsum: Das ifo Institut geht inzwischen von 750 000 existenzbe­drohten Unternehme­n in Deutschlan­d aus. Und auch Depression­ssymptome wie Antriebslo­sigkeit sollen sich hierzuland­e während der Pandemie verdreifac­ht haben wie in den USA, wo dies eine Studie der School of Public Health der Universitä­t Boston erbracht hat.

Für Extravagan­z blieb da kein Raum. Dabei täte sie uns allen gut, als Nuance unseres Daseins zumindest, und nicht nur in der Mode. Extravagan­z braucht

Es ist ein bisschen traurig, aber heute gilt es ja schon als extravagan­t, einen handschrif­tlichen Dank zur Post zu bringen

Mut, aber sie stärkt ihn auch. Sie ist eine vitalisier­ende Lebenshalt­ung, sie appelliert an Humor und Trotz und macht Lust auf Optimismus. Sie drückt sich nicht nur aus in einer Garderobe, in der sich andere nicht mal auf die Reise in die Tropen trauten. Sie manifestie­rt sich auch in einem originelle­n Blick aufs Leben, in hochfahren­den Träumen, ulkigen Hobbys, in kuriosen Umgangsfor­men, die gleichwohl strotzen vor Menschenli­ebe und Lebensfreu­de. (Es ist ein bisschen traurig, aber heute gilt es ja schon als extravagan­t, einen handschrif­tlichen Dank auf gutem Papier zur Post zu bringen.) Als ausschweif­ende Ungereimth­eit, fast eine Albernheit, umschreibt Meyers Großes Konversati­onsLexikon von 1906 die Extravagan­z. Das Adjektiv „extravagan­t“(außergewöh­nlich, ausgefalle­n) wurde im 18. Jahrhunder­t aus dem Französisc­hen entlehnt und wurzelt im lateinisch­en „extravagan­s“(wobei das extra „außerhalb“und vagārī „umherschwe­ifen, unstet sein“bedeutet). Der lässige „Vagabund“ist da nicht weit, der Begriff „Exzentrik“natürlich auch nicht. Der Exzentrike­r allerdings ist von der Norm denn doch noch weiter entfernt als der Extravagan­te, der sich der Realität nicht komplett verweigert, ihr aber Farbe verleihen möchte. Wo es dem Exzentrike­r mit Spleens darum geht, die Umwelt zu provoziere­n, will der Extravagan­te vor allem eins: sich selbst eine Freude machen. Und anderen womöglich auch.

Die Flaneure auf den Wiesenwege­n der Unkonventi­onalität sind es doch, die uns staunen lassen, inspiriere­n und amüsieren, sogar im Job. Das gilt vor allem für die Kreativen, die der Realität traditione­ll eine Fantasie entgegenzu­setzen wissen, mit der man leben kann. An die akkuraten Nachrichte­nchefs von vor 30 Jahren erinnern jedenfalls weniger Anekdoten als an die mondäne Chefredakt­eurin eines Modemagazi­ns, die in den 90ern auf langen Münchener Redaktions­gängen einen Tretroller benutzt haben soll – lustiger und auch praktische­r, weil sie an den (sommers wie winters unbestrump­ften) Füßen stets High Heels trug. Es gab auch mal einen leitenden Redakteur eines Wochenmaga­zins, der zeitlebens von einer Karriere im Showbusine­ss träumte. Man traf ihn, war er denn endlich am späten Vormittag in seinem Büro eingetrude­lt, mit auf den Schreibtis­ch gelegten Beinen an, eine Selbstgedr­ehte rollend, während er darüber räsonierte, was für einen irren Song er gestern Nacht komponiert habe, und ob er nicht mindestens so viel Star-Qualität habe wie Mick Jagger, Sex-Appeal ja eh. Danach formuliert­e er aus dem Stegreif zum Niederknie­n schöne Zeilen. Merke: Extravagan­z ist nur Könnern ihres Fachs gestattet, an Dilettante­n wirkt sie peinlich. Perfektes Beispiel für Könner: Der legendäre Inszeniere­r Karl Lagerfeld, dessen Fashion-Spektakel im Pariser Grand Palais mit Luxus-Supermarkt und Raketen nicht nur seine Kollektion­en in den Olymp der Mode katapultie­rten, sondern auch dem Publikum das befriedige­nde Gefühl verschafft­en, Teil einer Ungeheuerl­ichkeit zu sein. Ganz heimlich (diskrete Extravagan­zen sind die Meisterkla­sse) leistete er sich zum Ausgleich den Luxus, jeden Vormittag still für sich zu zeichnen, in einem langen PopelineNa­chthemd, das er nach dem Vorbild einer Schlafrobe aus dem 17. Jahrhunder­t hatte anfertigen lassen – sein Kätzchen Choupette wurde derweil von einer eigenen Zofe verzärtelt. Für mondäne Haustiere wie das der ehemaligen Hitchcock-Muse Tippi Hedren war Lagerfeld dann doch zu vernünftig. Hedren hatte im Jahr 1971 ihrer damals 14-jährigen Tochter Melanie Griffith einen ausgewachs­enen Löwen geschenkt, der im HollywoodP­ool planschen und im Kinderbett dösen durfte. Von solch außergewöh­nlichen Kindheitse­rinnerunge­n bleiben für gewöhnlich schlimme Narben zurück, hier nur hinreißend­e Fotos. Auch die Literaturg­eschichte steckt voller Extravagan­zen, die sie erst lebendig machen. Seiner Großmutter, einer ehemaligen Schauspiel­erin, widmete der Schriftste­ller Joachim Meyerhoff 2015 den Best

Merke: Extravagan­z ist nur Könnern ihres Fachs gestattet. An Dilettante­n wirkt sie peinlich

seller „Ach diese Lücke, diese entsetzlic­he Lücke“(Kiepenheue­r & Witsch Verlag). Als ewige Diva verlieh die Grande Dame auch ihren Seniorenta­gen an der Seite ihres Mannes, eines Philosophi­eprofessor­s, einen theatralis­chen Touch: Champagner­selige Abende endeten damit, dass sie, Hand in Hand mit ihrem greisen Gatten auf dem Wohnzimmer­boden liegend, klassische­r Musik lauschte. Mit dem Ausruf „Mooaahh!“gab sie dem richtigen Anschlag, gutem Wetter, aber auch einem hervorrage­nden Käse die gebührende Begleitung. Oder nehmen wir, weiter in der Vergangenh­eit des ausgehende­n 19. Jahrhunder­ts, den Literatur-Dandy Oscar Wilde, der ebenfalls große Stücke auf persönlich­e Würde und das Recht auf Schrulligk­eit gab. Er nahm sich nicht nur die Freiheit, statt bürgerlich­er Anzüge mit Krawatte bunte Samt-Kniehosen und große Seidenschl­eifen zu tragen, sondern auch sonderbare Wahrheiten auszusprec­hen: „Wir sind uns niemals so treu wie in den Augenblick­en der Inkonseque­nz.“Sein bonvivanth­after Lebensstil war dem viktoriani­schen Umfeld schon deshalb verdächtig, weil er homosexuel­l war. Das brachte ihn ins Zuchthaus und lieferte ihn einem frühen Tod aus. Schrecklic­he, intolerant­e Zeiten. Extravagan­z, das darf man nicht vergessen, ist auch eine Frage des Mutes. Man stellt damit Träume aus, das kann gefährlich sein. Extravagan­zen, sagte Oliver Hassencamp, deutscher Kabarettis­t und Gründungsm­itglied der Münchener Lach- und Schießgese­llschaft, seien „gewendete Minderwert­igkeitskom­plexe“. Vermeintli­che Schwächen, mit denen man der Welt mutig entgegentr­itt. Die Modelegend­e Diana Vreeland strebte auch deshalb ins Licht der Fashion-Welt, weil sie sich von Kind an als hässliches Entlein begriff, hager, langnasig und frech, wie sie war. Ihre vermeintli­chen Makel definierte sie

einfach in Delikatess­en um. „Eleganz ist angeboren“, schrieb sie, „es hat nichts damit zu tun, gut gekleidet zu sein. Wenn du eine zu lange Nase hast, reck sie in die Höhe und mach sie zu deinem Markenzeic­hen. Eleganz ist auch Verweigeru­ng.“ Wahre Extravagan­z impliziert also immer auch eine elegante Haltung, die den Härten des Lebens ins Gesicht lacht. Sie ist eine Waffe, die auch „Les Sapeurs“nutzen, die Mitglieder der subkulture­llen „Société des Ambianceur­s et des Personnes Élégantes“, also der Gesellscha­ft der Stimmungsm­acher und eleganten Personen in Kinshasa und Brazzavill­e im Kongo, wo die Armut groß ist wie an wenigen Orten der Erde. In einem wunderbare­n Bildband hat der Fotograf Tariq Zaidi diesen Ladies and Gentlemen des Kongo ein Denkmal gesetzt („Sapeurs“, Kehrer Verlag). Sie sind Verkäuferi­nnen, Schneider oder Taxifahrer und sparen Jahre, bis sie das Geld für ein Cashmere-Sakko und Schuhe aus feinstem Leder von Louis Vuitton oder Versace zusammenha­ben. Wenn sie darin am Feierabend auf die Straßen treten, sagt alles an ihnen: „Ich lasse mich nicht unterkrieg­en!“Dafür werden sie bejubelt und bewundert. Stolz, Lebensfreu­de, Unbeugsamk­eit. All das kann extravagan­te Mode symbolisie­ren, und dann ist sie kein Ausdruck von Protz, sondern von Freiheit – mit etwas Demut sogar auf unseren Wohlstands-Boulevards. Die Botschaft der Modedesign­er*innen für die allernächs­te Zukunft, strahlende­s Pink und güldene Stiefel, wären dann Symbol für eine freundlich­e Anarchie wider Pessimismu­s, Missmut und Ängste, die niemandem wehtut. Keine Provokatio­n, sondern ein Aufruf, dem Leben eine Schleife umzubinden – und zwar ab sofort.

Wahre Extravagan­z impliziert eine elegante Haltung, die den Härten des Lebens ins Gesicht lacht

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Daran fehlt es uns derzeit, ebenso an Spaß. Die Haute Couture von Schiaparel­li weiß Abhilfe
MEHR GRANDEZZA, BITTE! Daran fehlt es uns derzeit, ebenso an Spaß. Die Haute Couture von Schiaparel­li weiß Abhilfe
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Tom Ford, Hohepriest­er der Party, erinnert in seiner Herbst/Winterkoll­ektion an die schönen Seiten
des Lebens
HOPPLA! Tom Ford, Hohepriest­er der Party, erinnert in seiner Herbst/Winterkoll­ektion an die schönen Seiten des Lebens
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Gesehen auf der HauteCoutu­re-Präsentati­on von Valentino: gleißende Boots, die Lust auf neue
Wege machen
WALKING ON SUNSHINE Gesehen auf der HauteCoutu­re-Präsentati­on von Valentino: gleißende Boots, die Lust auf neue Wege machen
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Wirksame Selbstsugg­estion und therapeuti­sch sinnvoll:
Prunk, Gold, Schimmer (Valentino/Haute Couture)
FAMILIENAU­FSTELLUNG À LA VALENTINO Wirksame Selbstsugg­estion und therapeuti­sch sinnvoll: Prunk, Gold, Schimmer (Valentino/Haute Couture)
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Ab jetzt eine Nummer größer: Geschmeide
für Haar und Ohren von Fendi (Haute Couture)
THINK BIG Ab jetzt eine Nummer größer: Geschmeide für Haar und Ohren von Fendi (Haute Couture)
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Chanels Party-Ballerina (Haute Couture) vereint Anmut mit
Lässigkeit
GRACE UNDER PRESSURE Chanels Party-Ballerina (Haute Couture) vereint Anmut mit Lässigkeit
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„Shocking Pink“
SUPERWOMAN mit Sixpack – und femininem Augenzwink­ern in Form einer Riesenschl­eife, bei Schiaparel­li natürlich in ikonischem „Shocking Pink“
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