LA EXTRAVAGANZA
Die Fashion-Welt prasentiert so viel Mut. Humor und Flamboyanz wie lange nicht. Eine Einladung zu mehr Lebenslust und Widerstandigkeit, die wir dringend annehmen sollten nicht nur modisch
Humor und Flamboyanz: Die Fashion-Welt lädt uns zu mehr Lebenslust und Mut ein – wir machen gern mit
LLasst uns träumen: Es ist Sommer, der Asphalt duftet noch nach dampfigem Platzregen. Schnell das Fahrrad am Laternenpfahl anschließen, die Tür in die Bar aufstoßen und: hinein! Ins Flirren und Vibrieren von Stimmen und Lachen und Musik, Vorsicht, nicht den Kellnern im Weg stehen, die mit Gläsern und Tellern beladene Tabletts vorbeibalancieren. Ah, dort ist der Tisch mit den Freunden – die Party beginnt. So wird es sich anfühlen, denn jeder Schritt aus dem heimischen Gefängnis wird uns wie ein Fest erscheinen, sobald sich die Tore zur Welt wieder öffnen – und das wird geschehen.
Was werden wir dann tragen? Auf den Haute-Couture-Schauen und Fashion Weeks des Frühlings haben die Modedesigner*innen, sträflich unterschätzt als Psychologen und Motivations-Coachs, schon ihre Parole für den Rest des Jahres 2021 ausgegeben: „Let’s get loud!“. So viel Farbe, Opulenz und Mut waren lange nicht. Tom Ford zeigte Minikleider, „shortest of short“, in Eyecatcher-Violett. Valentino animierte zu gleißend-goldenen PlateauHeels, die auf Trab bringen, sowie raumgreifenden Hoppla-jetzt-komm-ich-Röcken, genau wie Chanel. Und wer Schiaparellis Conversation Pieces (amüsante Ohrringe und Taschen, viel sexy Pink) nicht als Intro nutzt, dem ist flirttechnisch nicht zu helfen. Wie philosophiert der 24-jährige Charles de Vilmorin, neuer Fashion Director von Rochas, so verwegen? „Man braucht keinen besonderen Anlass, um etwas Besonderes zu tragen.“
Jetzt schlägt die Stunde der Extravaganz – und wenn die Mode das behauptet, sollte man zuhören. Denn Fashion ist ja nicht mehr Bestimmer von Trends, sondern Seismograf für Sehnsüchte, von denen man nichts ahnte oder die man erfolgreich verdrängt hat. Monatelang funktionierten wir tapfer in Video-Calls, unten praktische Loungewear, oben crispe, Frische heuchelnde Hemden, derweil die Stimmung in den Keller rutschte wie der Konsum: Das ifo Institut geht inzwischen von 750 000 existenzbedrohten Unternehmen in Deutschland aus. Und auch Depressionssymptome wie Antriebslosigkeit sollen sich hierzulande während der Pandemie verdreifacht haben wie in den USA, wo dies eine Studie der School of Public Health der Universität Boston erbracht hat.
Für Extravaganz blieb da kein Raum. Dabei täte sie uns allen gut, als Nuance unseres Daseins zumindest, und nicht nur in der Mode. Extravaganz braucht
Es ist ein bisschen traurig, aber heute gilt es ja schon als extravagant, einen handschriftlichen Dank zur Post zu bringen
Mut, aber sie stärkt ihn auch. Sie ist eine vitalisierende Lebenshaltung, sie appelliert an Humor und Trotz und macht Lust auf Optimismus. Sie drückt sich nicht nur aus in einer Garderobe, in der sich andere nicht mal auf die Reise in die Tropen trauten. Sie manifestiert sich auch in einem originellen Blick aufs Leben, in hochfahrenden Träumen, ulkigen Hobbys, in kuriosen Umgangsformen, die gleichwohl strotzen vor Menschenliebe und Lebensfreude. (Es ist ein bisschen traurig, aber heute gilt es ja schon als extravagant, einen handschriftlichen Dank auf gutem Papier zur Post zu bringen.) Als ausschweifende Ungereimtheit, fast eine Albernheit, umschreibt Meyers Großes KonversationsLexikon von 1906 die Extravaganz. Das Adjektiv „extravagant“(außergewöhnlich, ausgefallen) wurde im 18. Jahrhundert aus dem Französischen entlehnt und wurzelt im lateinischen „extravagans“(wobei das extra „außerhalb“und vagārī „umherschweifen, unstet sein“bedeutet). Der lässige „Vagabund“ist da nicht weit, der Begriff „Exzentrik“natürlich auch nicht. Der Exzentriker allerdings ist von der Norm denn doch noch weiter entfernt als der Extravagante, der sich der Realität nicht komplett verweigert, ihr aber Farbe verleihen möchte. Wo es dem Exzentriker mit Spleens darum geht, die Umwelt zu provozieren, will der Extravagante vor allem eins: sich selbst eine Freude machen. Und anderen womöglich auch.
Die Flaneure auf den Wiesenwegen der Unkonventionalität sind es doch, die uns staunen lassen, inspirieren und amüsieren, sogar im Job. Das gilt vor allem für die Kreativen, die der Realität traditionell eine Fantasie entgegenzusetzen wissen, mit der man leben kann. An die akkuraten Nachrichtenchefs von vor 30 Jahren erinnern jedenfalls weniger Anekdoten als an die mondäne Chefredakteurin eines Modemagazins, die in den 90ern auf langen Münchener Redaktionsgängen einen Tretroller benutzt haben soll – lustiger und auch praktischer, weil sie an den (sommers wie winters unbestrumpften) Füßen stets High Heels trug. Es gab auch mal einen leitenden Redakteur eines Wochenmagazins, der zeitlebens von einer Karriere im Showbusiness träumte. Man traf ihn, war er denn endlich am späten Vormittag in seinem Büro eingetrudelt, mit auf den Schreibtisch gelegten Beinen an, eine Selbstgedrehte rollend, während er darüber räsonierte, was für einen irren Song er gestern Nacht komponiert habe, und ob er nicht mindestens so viel Star-Qualität habe wie Mick Jagger, Sex-Appeal ja eh. Danach formulierte er aus dem Stegreif zum Niederknien schöne Zeilen. Merke: Extravaganz ist nur Könnern ihres Fachs gestattet, an Dilettanten wirkt sie peinlich. Perfektes Beispiel für Könner: Der legendäre Inszenierer Karl Lagerfeld, dessen Fashion-Spektakel im Pariser Grand Palais mit Luxus-Supermarkt und Raketen nicht nur seine Kollektionen in den Olymp der Mode katapultierten, sondern auch dem Publikum das befriedigende Gefühl verschafften, Teil einer Ungeheuerlichkeit zu sein. Ganz heimlich (diskrete Extravaganzen sind die Meisterklasse) leistete er sich zum Ausgleich den Luxus, jeden Vormittag still für sich zu zeichnen, in einem langen PopelineNachthemd, das er nach dem Vorbild einer Schlafrobe aus dem 17. Jahrhundert hatte anfertigen lassen – sein Kätzchen Choupette wurde derweil von einer eigenen Zofe verzärtelt. Für mondäne Haustiere wie das der ehemaligen Hitchcock-Muse Tippi Hedren war Lagerfeld dann doch zu vernünftig. Hedren hatte im Jahr 1971 ihrer damals 14-jährigen Tochter Melanie Griffith einen ausgewachsenen Löwen geschenkt, der im HollywoodPool planschen und im Kinderbett dösen durfte. Von solch außergewöhnlichen Kindheitserinnerungen bleiben für gewöhnlich schlimme Narben zurück, hier nur hinreißende Fotos. Auch die Literaturgeschichte steckt voller Extravaganzen, die sie erst lebendig machen. Seiner Großmutter, einer ehemaligen Schauspielerin, widmete der Schriftsteller Joachim Meyerhoff 2015 den Best
Merke: Extravaganz ist nur Könnern ihres Fachs gestattet. An Dilettanten wirkt sie peinlich
seller „Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“(Kiepenheuer & Witsch Verlag). Als ewige Diva verlieh die Grande Dame auch ihren Seniorentagen an der Seite ihres Mannes, eines Philosophieprofessors, einen theatralischen Touch: Champagnerselige Abende endeten damit, dass sie, Hand in Hand mit ihrem greisen Gatten auf dem Wohnzimmerboden liegend, klassischer Musik lauschte. Mit dem Ausruf „Mooaahh!“gab sie dem richtigen Anschlag, gutem Wetter, aber auch einem hervorragenden Käse die gebührende Begleitung. Oder nehmen wir, weiter in der Vergangenheit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, den Literatur-Dandy Oscar Wilde, der ebenfalls große Stücke auf persönliche Würde und das Recht auf Schrulligkeit gab. Er nahm sich nicht nur die Freiheit, statt bürgerlicher Anzüge mit Krawatte bunte Samt-Kniehosen und große Seidenschleifen zu tragen, sondern auch sonderbare Wahrheiten auszusprechen: „Wir sind uns niemals so treu wie in den Augenblicken der Inkonsequenz.“Sein bonvivanthafter Lebensstil war dem viktorianischen Umfeld schon deshalb verdächtig, weil er homosexuell war. Das brachte ihn ins Zuchthaus und lieferte ihn einem frühen Tod aus. Schreckliche, intolerante Zeiten. Extravaganz, das darf man nicht vergessen, ist auch eine Frage des Mutes. Man stellt damit Träume aus, das kann gefährlich sein. Extravaganzen, sagte Oliver Hassencamp, deutscher Kabarettist und Gründungsmitglied der Münchener Lach- und Schießgesellschaft, seien „gewendete Minderwertigkeitskomplexe“. Vermeintliche Schwächen, mit denen man der Welt mutig entgegentritt. Die Modelegende Diana Vreeland strebte auch deshalb ins Licht der Fashion-Welt, weil sie sich von Kind an als hässliches Entlein begriff, hager, langnasig und frech, wie sie war. Ihre vermeintlichen Makel definierte sie
einfach in Delikatessen um. „Eleganz ist angeboren“, schrieb sie, „es hat nichts damit zu tun, gut gekleidet zu sein. Wenn du eine zu lange Nase hast, reck sie in die Höhe und mach sie zu deinem Markenzeichen. Eleganz ist auch Verweigerung.“ Wahre Extravaganz impliziert also immer auch eine elegante Haltung, die den Härten des Lebens ins Gesicht lacht. Sie ist eine Waffe, die auch „Les Sapeurs“nutzen, die Mitglieder der subkulturellen „Société des Ambianceurs et des Personnes Élégantes“, also der Gesellschaft der Stimmungsmacher und eleganten Personen in Kinshasa und Brazzaville im Kongo, wo die Armut groß ist wie an wenigen Orten der Erde. In einem wunderbaren Bildband hat der Fotograf Tariq Zaidi diesen Ladies and Gentlemen des Kongo ein Denkmal gesetzt („Sapeurs“, Kehrer Verlag). Sie sind Verkäuferinnen, Schneider oder Taxifahrer und sparen Jahre, bis sie das Geld für ein Cashmere-Sakko und Schuhe aus feinstem Leder von Louis Vuitton oder Versace zusammenhaben. Wenn sie darin am Feierabend auf die Straßen treten, sagt alles an ihnen: „Ich lasse mich nicht unterkriegen!“Dafür werden sie bejubelt und bewundert. Stolz, Lebensfreude, Unbeugsamkeit. All das kann extravagante Mode symbolisieren, und dann ist sie kein Ausdruck von Protz, sondern von Freiheit – mit etwas Demut sogar auf unseren Wohlstands-Boulevards. Die Botschaft der Modedesigner*innen für die allernächste Zukunft, strahlendes Pink und güldene Stiefel, wären dann Symbol für eine freundliche Anarchie wider Pessimismus, Missmut und Ängste, die niemandem wehtut. Keine Provokation, sondern ein Aufruf, dem Leben eine Schleife umzubinden – und zwar ab sofort.
Wahre Extravaganz impliziert eine elegante Haltung, die den Härten des Lebens ins Gesicht lacht