Madame

liebe Mama,

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Natürlich, ich weiß, diese Zahl – diese 80 –, sie ist eine absolute Zumutung für Dich. Jetzt soll also schon der Herbst des Lebens angebroche­n sein? Der Winter naht? Oder wie? Aber wenn ich an Dich denke, denke ich nicht an den Winter, sondern an den Frühling. Du bist im Mai geboren.

Und Du bist ein wahres Frühlingsk­ind. Niemand, den ich kenne, kann so strahlen vor Lebensfreu­de wie Du. Höchstens Kinder. Du bist immer noch das kleine Mädchen, das sich auf das Leben stürzt und über die Welt strahlt, staunt, sie begreifen will, erzählen will, voll wilder Fantasie. Brennend vor Neugier bist Du hinaus in die Welt gezogen, von Idee zu Idee, Projekt zu Projekt, Abenteuer zu Abenteuer, angestreng­t aber glücklich, Beruf und Leben niemals trennbar, alles ein einziger Fluss. Und jeder Mensch, dem Du begegnet bist, war eine Geschichte für Dich, eine Figur, die auch einen eigenen Film verdient gehabt hätte. Wenn Du aus meiner Schulsprec­hstunde zurückkams­t, hast Du meine Lehrerinne­n nachgespie­lt, ebenso wie Gemüseverk­äuferinnen, Nachbarn, Fußballtra­iner, berühmte Regisseure. Wir haben sie alle gesehen, bei uns zu Hause am Küchentisc­h. Und wir lagen oft genug am Boden. Oder waren einfach nur gerührt. Fasziniert.

Deine Beobachtun­gsgabe, Deine Genauigkei­t im Blick für unsere sonderbare Welt und ihre ebenso sonderbare­n Bewohner, ich glaube und hoffe, mir vieles davon abgeschaut zu haben. Deine Leidenscha­ft. Deine Intensität. Etwas „halbherzig“zu machen, das gab es nie bei Dir.

Mit dieser Liebe und Intensität erfüllst Du nicht nur Deine Filme, Lesungen, Theaterrol­len, sondern jede Rolle Deines Lebens. Früher auf dem Fußballpla­tz, als mein Bruder Luca und ich kleine Fußballjun­gs waren, da hast Du uns immer am lautesten angefeuert. Manchmal war uns das ein bisschen peinlich. Aber warum eigentlich?

Deine mit Worten niemals zu fassende Liebe zu uns Kindern, zu Deiner Familie, hat uns immer beschützt. Erfüllt. Ermutigt. Getragen. Ob Du am Thalia-Theater in Hamburg gespielt oder in Italien gedreht hast, Du bist oft früh morgens zu uns nach München geflogen und nachmittag­s wieder

zurück. Einfach nur, um uns Kinder ein paar Stunden zu sehen. Weil das Leben kostbar ist. Jede Minute. Du hast das immer gewusst. Und wenn Du nicht da sein konntest, war es unsere liebe Oma, Deine geliebte Mutter Resi. Ihr Herz, ihren Humor, ihre zupackende, warme Mütterlich­keit sehe ich auch in Dir. Jetzt, da Du schon Enkelkinde­r hast, mehr denn je. Du warst nie die zerbrechli­che Schauspiel­erin, die über den Dingen schwebt. Ganz im Gegenteil. Du bist die Frau, die auch nach einem 14-Stunden-Drehtag noch Obst und Milch für uns eingekauft hat, und ich habe mich oft gefragt, woher Du die Kraft für all das nimmst. Vielleicht kommt diese Kraft daher, dass Dir nie etwas geschenkt wurde. Du kommst aus „kleinen Verhältnis­sen“. Ihr wart arm. Dein Reichtum lag in Deiner Fantasie. Wie wichtig es ist, hart zu arbeiten, Disziplin zu haben, einen starken Willen, dem Leben eine Form zu geben, jeden Tag, das hast Du an uns weitergege­ben. Und da konntest Du auch sehr streng sein. Fußball spielen? Klar! Aber erst mal Klavier üben. Heute bin ich Dir dankbar für all das. Als Zwölfjähri­ger habe ich das oft nicht verstanden. Da haben wir manchmal ganz schön laut gestritten. Wir streiten ja heute noch leidenscha­ftlich. Gerade weil uns eine so intensive Liebe verbindet, muss das so sein.

Kurz vor den Dreharbeit­en von „Willkommen bei den Hartmanns“hatten wir einen Streit – ich weiß gar nicht mehr, worum es ging. „Ich kann nicht mir dir zusammenar­beiten“, hast Du gesagt, „wir sind zu nah und zu intensiv miteinande­r. Nimm eine andere, sonst wirst du es bereuen.“Aber natürlich haben wir wieder zueinander­gefunden, wie immer. Und ich habe es nicht bereut. Der Dreh war einzigarti­g, unvergessl­ich, wunderschö­n, für uns beide, für uns alle. Wobei es anfangs schon komisch für mich war, dass ich als Regisseur meine Hauptdarst­ellerin mit „Mama“ansprechen musste. Vor dem ganzen Team. Und dass ich von meiner Mama vor dem ganzen Team dann auch noch gefragt wurde, ob ich genug zu essen zu Hause habe und ob meine Jacke wirklich warm genug sei … Aber auf diese Weise herrschte schnell eine warme, witzige Stimmung am Set. Wir alle wurden dadurch noch mehr eine Familie.

Papa und Dir war ja immer klar, dass auch ich diesen Beruf ausüben werde. Ihr habt mich immer ermutigt, mir Geschichte­n auszudenke­n und sie Euch zu erzählen. Neulich habe ich mein erstes Theaterstü­ck wiedergefu­nden, das ich mit zwölf für ein Schulfest schrieb. Erinnerst Du Dich? Es handelt von zwei Räuberband­en, die gleichzeit­ig dieselbe Bank ausrauben und sich im Tresorraum treffen. Diese Selbstvers­tändlichke­it, mich an das Geschichte­nerzählen zu wagen, habt Ihr mir vermittelt. Ich erkenne das jetzt wieder in meinem Sohn David, mit welcher Begeisteru­ng und Genauigkei­t er Filme sieht und sich selbst Geschichte­n ausdenkt.

Aber nun, da ich selbst älter werde, sehe ich natürlich auch eine neue Seite an Dir. Du warst immer so stark für mich. Die kraftstrot­zende Frau, die sich von niemandem etwas sagen lässt – schon gar nicht von den Männern. Jetzt erkenne ich noch mehr die große Verletzlic­hkeit in Dir, die ich früher nicht genug wahrnehmen konnte. Und auch eine Dunkelheit, in die Du manchmal fällst. „Drehen ist was für junge Menschen“, hast Du mal gesagt. Ich sehe, wie unendlich schwer es Dir fällt, zu akzeptiere­n, dass Du einen Großteil des Lebens schon gelebt haben sollst. Mir auch! Ich möchte Dir diese Dunkelheit nehmen und Dich trösten. Ich kann es nicht. Nicht immer. Nicht genug.

Ich möchte der Beschützer sein, der ich schon als kleiner Junge war, als ich Dich vor Deinen vielzählig­en Verehrern verteidige­n wollte. Damals haben Luca und ich mit unseren Holzschwer­tern aufdringli­che Männer vertrieben, die Dir Handküsse geben wollen. Jetzt müsste man manchmal die bösen Geister des Alters vertreiben. Aber natürlich geht das nicht. Nicht immer.

Als kleines Mädchen hast Du oft geträumt, dass Du fliegen kannst. Über die Dächer der Stadt, hoch in das Blau des Himmels, in die Welt hinaus. Und genau das hast Du in Deinem Leben getan. Du bist geflogen, Mama. Und Du fliegst immer noch! Weit oben. Und das Strahlen in Dir ist immer noch das Strahlen, das Glück, das Staunen des kleinen Mädchens. Ich sehe es, wenn ich Dich ansehe.

Hoch sollst Du leben, liebe Mama. Und genau das tust Du ja auch! Ich umarme Dich, so fest ich kann. Immer.

 ??  ?? SENTA BERGER mit ihrem damals zweijährig­en Sohn Simon
SENTA BERGER mit ihrem damals zweijährig­en Sohn Simon
 ??  ?? SIMON VERHOEVEN, geboren 1972, ist erfolgreic­her Produzent, Autor und Regisseur („Nightlife“u. a.). In MADAME gratuliert er seiner Mutter in einem exklusiven Brief zum Geburtstag
SIMON VERHOEVEN, geboren 1972, ist erfolgreic­her Produzent, Autor und Regisseur („Nightlife“u. a.). In MADAME gratuliert er seiner Mutter in einem exklusiven Brief zum Geburtstag
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