LUNCH MIT …
Von London nach Apulien: Mit viel Kosmetik auf ihrem Schreibtisch und Pasta mit Tomatensauce auf meinem sprechen wir mit der Beauty-Unternehmerin über Make-up-Sünden und ihre Hands-onMentalität als Chefin einer globalen Marke
Charlotte Tilbury. Die Beauty-Unternehmerin über das Gesicht als Leinwand
Hey Darling!“Strahlend erscheint Charlotte Tilbury auf meinem Bildschirm. Die roten Haare umrahmen ihren perfekt geschminkten Teint. Ihre Augen hat sie mit einem kohlschwarzen Eyeliner umrandet, die Lippen glänzen zurückhaltend in einem Rosenholzton. Hinter ihr sehe ich eine Wand mit Magazintiteln. „Ich bin hier im Homeoffice“, erzählt sie, „und hab es mir mit meinen Best Friends gemütlich gemacht.“Die Britin lebt in der Nähe des Londoner Portobello Market und ist das, was man eine „Force of Nature“nennt. Sie spricht, denkt und agiert schneller als die meisten. Ihre Sätze enden nicht im Ungefähren, sondern mit einem Ausrufezeichen. Und sie hat ein ungemein charmantes und quirliges Wesen. Qualitäten, die die gelernte MakeupArtistin zum Darling aller weiblichen Celebrities gemacht haben. Hinter ihr, unter den Logos internationaler Modemagazine, sind all die Frauen zu sehen, denen sie ein covertaugliches Makeup verpasst hat und deren Vornamen ausreichen, um Instant Glamour zu versprühen: Kate, Naomi, Gisele, Claudia – irdische Göttinnen des Modelbusiness. Obwohl Charlotte Tilbury vor acht Jahren ihre eigene Kosmetikmarke gegründet und mittlerweile über 1100 Mitarbeiter*innen auf der gesamten Welt hat, setzt sich die 48Jährige immer noch regelmäßig ins Flugzeug, um etwa zu den Oscars in L. A. das eine oder andere berühmte Gesicht ins perfekte Licht zu rücken. Natürlich hat auch hier Corona die Dynamik eingeschränkt. Ihre beiden Söhne, erzählt sie, danken es ihr. Der Sechs und der Elfjährige haben ihre Workaholic Mummy nämlich gern in der Nähe. „Gott sei Dank hatten sie sich gegenseitig in der Pandemie, das war das Gute in einer schwierigen Lage.“Dann berichtet sie lachend, dass die Freundinnen ihrer Söhne schon jetzt gern nach ihrem Makeup greifen. Die immer noch anhaltenden Reisebeschränkungen sind auch der Grund, warum wir uns gerade nicht gemeinsam in einem schicken Londoner Restaurant befinden, sondern an zwei weit entfernten Orten. Ich sitze an einem schattigen Plätzchen, bei Freunden in Apulien, und blicke in den crispen blauen Himmel, darunter ein Streifen Meer und endlos weite OlivenbaumFelder. Weil das ja hier ein LunchDate ist, habe ich die für die Region so typischen frischen Orecchiette gekocht, dazu eine sämige Tomatensauce mit weißen Zwiebeln, die in viel lokalem Olivenöl gedünstet werden. Eingeköchelt mit einem Schuss Prosecco, kleinen süßen Tomaten, Salz. Alles püriert und fertig. Dazu ein schaumiger Wein. Tilbury hat vor sich ausgebreitet ihre SignatureLippenstifte, Cremes, Kosmetiktäschchen. Das ein oder andere
Kate, Naomi, Claudia: Tilbury ist die Visagistin der Stars, weil sie für jeden einen exakt passenden Look kreiert
„Als Make-up-Artist ist man auch immer ein Medium.“
Produkt wird sie im Laufe unseres Gesprächs in die Kamera halten und erklären, was es mit all den humorvollen Namen wie „Lip Cheat“und „Flawless Airbrush“und „Pillow Talk“auf sich hat. Und dass sie eine Menge Lippenstifte kreiert hat für ihre berühmte Klientel, deren Look so viele Frauen gern kopieren möchten. Aber jetzt erzählt sie erst mal, dass das Leben in London wieder losgeht, die Pubs wieder öffnen, die Menschen losziehen zum „Revenge Shopping“, also all das aufholen, was sie in den vergangenen Monaten versäumt haben. Sie freue sich über die sensationellen Umsätze ihrer Brand. „Ich liebe meine Kund*innen! Sie sind amazing!“, ruft sie in den Bildschirm. „Danke, danke, danke!“Am meisten vermisst habe sie die Nähe zu Menschen, Dinnerpartys mit Freunden, Umarmungen. Natürlich auch, durch die großen Departmentstores Harrod’s und Selfridges zu streifen. „Aber glücklicherweise“, sagt sie, „konnten wir weiterarbeiten während der Lockdowns. Im Webshop ihrer Brand ging das Leben weiter. „Ich verkaufe Selbstbewusstsein und Glück in einem Tiegel. Das hat vor allem in dieser schweren Zeit funktioniert“, erklärt sie ihren Erfolg. „Makeup ist Jahrhunderte alt. Menschen haben es immer benutzt, um sich stärker, größer, besser zu fühlen, egal ob als Kriegsbemalung oder als Mittel zur Verführung.“Charlotte Tilbury wuchs in einem Künstlerhaushalt auf Ibiza auf. Ihr Vater brachte ihr das Verständnis von Farben, Formen und Licht bei. „Ich habe viele Prinzipien aus der Kunst in meiner Kosmetik verarbeitet: den Umgang mit Pinseln, die Grundierung der Leinwand. Für mich ist das Gesicht wie eine Leinwand – und ohne Grundierung geht da nichts.“Das künstlerische Umfeld machte sie angstfrei und wagemutig, resümiert sie. „Dare to dream, dare to believe it and dare to do it“– das war ihr Credo, als sie mit 19 Jahren, zurück in England, die ersten Schritte ins Business tat. „Wenn dein Gehirn es für möglich hält und dein Herz es glaubt, dann bekommst du es auch.“Also assistierte sie der berühmten Mary Greenwell, Visagistin von Prinzessin Diana, schminkte die Models bei allen großen Shows – bis zu 40 pro Saison, bekam immer mehr Jobs für Shootings mit bekannten Stylist*innen und Fotograf*innen. Dazu baute sie sich, wie sie sagt, „eine big red carpet career“auf, schminkte Celebrities wie Salma Hayek, Penélope Cruz für die Emmys, die Globes, die Oscars. „Ich habe fast mit allen Großen gearbeitet, nur die Queen fehlt mir noch.“Frauen, denen sie über den Job hinaus sehr verbunden ist, sind Amal Clooney und Kate Moss. Die Anwältin bewundert sie wegen ihrer Menschenrechtsaktivitäten. Kate Moss ist eine enge Freundin geworden und die Patentante ihrer Söhne. Die Lippenstiftfarbe, die sie jetzt in die Kamera hält, heißt „Amazing Amal“. Die für Kate „The New Kate“. „Alle meine Freundinnen als Lippenstift“, strahlt sie und hält eine beeindruckende Sammlung hoch: „Kidman’s Kiss“, „Miranda May“(für Miranda Kerr), „Glowing Jen“(für Jennifer Aniston) und so viele mehr. Ich frage sie nach dem Geheimnis ihrer Beliebtheit bei der durchaus anspruchsvollen Klientel. „Ich denke, dass ich es schaffe, die beste und schönste Version jeder einzelnen Frau auf ihre ganz individuelle Weise herauszuholen, dass sie mich deswegen mögen und buchen.“In den wirklich wichtigen Momenten, bei Hochzeiten und Preisverleihungen, gehe man lieber auf Nummer sicher. „Diese Frauen wollen frisch, glowing, einfach schön sein. Und sie vertrauen mir, dass ich das hinbekomme.“
Damit auch normale Frauen ein wenig von dem Glanz dieser Superschönheiten abbekommen können, verkauft Tilbury ganze Sets mit Looks à la Jennifer Lopez und Kate Moss. Sie hat daraus ihre ganz eigene Typologie gemacht: Die Golden Goddess, das Rock Chick, Uptown Girl, Vintage Vamp. Während sie spricht, springt Charlotte Tilbury immer wieder auf, holt neue Täschchen und zeigt mir, was darin ist. Dabei fällt mir ihr hübsches Kleid mit goldenen Tupfern darauf auf. Als ich sie nach dem Designer frage, hält sie einen Moment inne und erzählt erst einmal mehr über ihre Accessoires: „Der Gürtel ist ein VintageStück aus den Sixties, und die Boots sind vintage Marc Jacobs.“Dann versucht sie erfolglos, an das Etikett des Kleides zu kommen und meint: „Ich glaube, es ist von Gucci.“Ein ehemaliger GucciDesigner ist bis heute eine ihrer ergiebigsten Inspirationsquellen: Tom Ford. „Ich liebe ihn und seine kreativen Visionen. Er versteht den weiblichen Körper wirklich. Und er hat eine ganz klare Vorstellung von einer TomFordFrau. Als MakeupArtist ist man ja auch immer ein Medium.“Ganz anders, aber ebenso bereichernd, habe sie die Zusammenarbeit mit Alexander McQueen in Erinnerung. „Er war sehr theatralisch, edgy, künstlerisch.“Was sie für ihn gemacht habe, sei sehr Avantgarde und wenig alltagstauglich gewesen. Ein guter Moment, über das zu sprechen, was ihr am Makeup ganz normaler Frauen auffalle. „Dass viele mehr in ihre Hautpflege investieren sollten“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Sie kenne das Problem von Models, deren Haut durch das häufige Schminken auch oft irritiert sei. Als Generallösung für dieses Problem habe sie als eines ihrer ersten Produkte eine „Magic Cream“, entwickelt. „Ich bin auch als Queen of Glow bekannt“, sagt sie, und dass die Creme einen unmittelbaren Effekt habe. Sie schnippt ein paarmal, um das Gesagte zu unterstreichen. „Ich möchte der Welt Glow schenken“, ruft sie noch begeistert hinterher. Charlotte Tilbury ist nicht nur eine TopKreative, sondern auch eine erstklassige Verkäuferin. Eine weitere Sache, die ihr auffällt, wenn sie in die Gesichter von Frauen um sich herum blicke, sei die oft falsche Wahl von Farben. „Es geht darum, dass man komplementäre, schmeichelnde Farben für sich findet“, sagt sie und rät zu einer Beratung am BeautyCounter oder auch in einer digitalen Session mit trainierten BeautyBeraterinnen. Wenn sie gestikuliert, sehe ich ihre Ringe auf dem Bildschirm. Sie trägt an jedem einzelnen Finger ein auffälliges Schmuckstück. Ein spannender Mix aus selbst erstandenen antiken Preziosen, Geschenken ihres Mannes, Filmproduzent George Waud, und einem Smaragdring ihrer Freundin Kate Moss. Am Hals blinkt ein StierAnhänger von ihrer Schwester aus Ibiza, an den Ohren baumeln über 2000 Jahre alte Goldgehänge. „Ich stöbere oft stundenlang auf Websites herum, um mehr über die Bedeutung der Stücke herauszufinden. Sie inspirieren mich unglaublich.“Bei ihrem Erzähltempo bin ich kaum zum Essen gekommen. Um mir Luft für eine Gabel Pasta zu verschaffen, frage ich nach dem Lokal, wo wir uns unter normalen Umständen getroffen hätten. Sie hätte sich für die Terrasse des „River Cafés“entschieden: „Großartiges Essen! Besonders die Dover Sole und die TrüffelPasta. Dazu ein Aperol Spritz oder ein Glas Champagner!“Für müßige Mittagessen bleibt ihr sonst auch nicht viel Zeit: Charlotte Tilbury ist nicht nur die Gründerin der Marke, sondern auch President und Chairman of the Board, Chief Creative Officer und Gesicht ihrer Marke. Sie ist intensiv in die Entwicklung ihrer Produkte und deren Verpackungen involviert, arbeitet an der Customer Experience, analog und digital. Finanzen, Legal – es gibt keinen Teil ihres Business, den sie nicht überblickt. „Mir geht es um Innovation, Disruption, Adaption. Ich habe eine genaue Vorstellung von allem und ein Gespür für Menschen. Und ein unglaubliches Team“, sagt sie. Ihr Mantra: Denke ohne Grenzen! Dream big! „Ich möchte Frauen inspirieren. Und ich arbeite zu 80 Prozent mit Frauen.“Ihr Appell an die Mitarbeiterinnen und die gesamte weibliche Welt: „Traut euch! Auch scheinbar komplizierte Dinge wie Finanzen, Zahlen und Steuern sind am Ende einfach, wenn man es herunterbricht – I love Business!“