MELANIE KIEBACK
Das höchste der Gefühle: Die Berliner Fotografin und Vintage-Influencerin „Vanellimelli“hat Nostalgie zu ihrer Marke gemacht
Sandfarbene Altbaufassaden, Graffiti an den unteren Stockwerken. Eine Lichterkette blinkt etwas verloren in den blauen Himmel. Das Café, in dem wir uns treffen, liegt im pittoresken Teil von Kreuzberg. Eigentlich hätte das Interview schon vor zwei Tagen stattfinden sollen, wenn Melanie Kiebacks Oldtimer nicht auf der Straße liegen geblieben wäre, einfach so. Eine Entschuldigungs-Mail und eine Instagramstory später – Inhalt beider: Foto ihres knallroten SLCabrio, Baujahr ’92, Warndreieck davor – bestellt sie jetzt rosa Schorle und ein Croissant am Tresen.
Kieback ist jemand, der zur Begrüßung umarmt und sich mit „Melli“vorstellt. Sie gehört zu den Menschen, die viele Komplimente machen und die Schals anderer Gäste aufheben, wenn sie unbemerkt von der Stuhllehne rutschen. Sie lacht viel. Ihre hellen Augen strahlen dann, und der kleine goldene Cowboystiefel, der als Anhänger an ihrem linken Ohr baumelt, schwingt ganz schnell hin und her.
„Ich bin einfach total verschossen in alles, was alt ist“, beginnt sie. Ein Satz, der die Inspiration hinter den Bildern und Videos beschreibt, die sie seit 2009 als Vanellimelli im Internet teilt. Eine Mischung aus professionellen Fotostrecken, Schnappschüssen und wackeligen Selbstporträts, alles in einer warm-wohligen Bildsprache und unter dem sanften Schleier von Filmkorn. Ihre Outfits, fast ausschließlich aus zweiter Hand, erinnern dabei an die Mode der 80er-, 90er-Jahre. Also an Jahrzehnte, die sie selbst gar nicht oder nur als Kind miterlebt hat – und darum geht’s auch. „Ich finde es spannender, wenn ich mich an die Zeit nicht selbst erinnere, sondern sie für mich interpretieren kann.“Mit Vanellimelli ist es ihr gelungen, die perfekte Projektionsfläche für diese diffuse Sehnsucht zu schaffen, die so viele junge Menschen mit ihr teilen: Nostalgie.
Damit ist Mel als Influencerin und Fotografin erfolgreich geworden. Gerade nahm sie ihre knapp 600 000 Instagram-Follower mit zu den Shows der Pariser Fashion Week, im Sommer sind ihre Fotos von Chanels „Coco Beach“-Kollektion in großen Modemagazinen erschienen. Um zu verstehen, wie es dazu kam, dass die 28-Jährige mit Filmkamera durch Europas Modebranche tingelt, muss sie etwas ausholen: „Früher war ich Leistungssportlerin, ich habe ge
turnt. Aber als Teenie hatte ich irgendwann keine Lust mehr, viermal die Woche in die Turnhalle zu gehen und Flicflacs zu machen. Ich war nicht mehr gemacht für den Leistungsdruck. Ich wurde richtig competetive, das mochte ich gar nicht an mir. Ich hab gemerkt: Nee, davon muss ich mich jetzt verabschieden.“Als sie aufhört zu turnen, verliert sie allerdings auch eine Möglichkeit, sich auszudrücken – Worte, sagt sie, seien noch nie so ihr Ding gewesen. „Ich habe dann von meinem Opa eine Filmkamera bekommen, eine Voigtländer aus den 50er-, 60er-Jahren. Und damit hat alles angefangen. Ich habe mir alte Anleitungen und Fotobücher angeschaut und mich gefragt, wie die Welt damals aussah, was trugen die Leute? Ich hatte das Gefühl, dass früher mehr Zeit, Geld und Anspruch da waren, um Dinge schön zu machen. Und meine Mutter war eh immer Fan davon, Sachen gebraucht zu kaufen. Altes war immer in meinem Umfeld.“
Ein wenig kommt Mel einem wie ein „Where’s Waldo“-Wimmelbild vor, bei dem man immer mehr entdeckt, je länger man hinschaut. Ein silberner AutoAnhänger an ihrer Battle-Charms-Kette etwa: „Der ist von meiner Oma, schau mal, die Reifen bewegen sich sogar!“Ein Sternzeichen-Token: „Ich bin ein sehr emotionaler Fisch, ich nehme viel von anderen in mir auf.“Ein goldener Ring am kleinen Finger: „Das ist eigentlich ein Taufring von Ebay – in der Kinderkategorie guckt halt keiner! Du merkst, von meinen Vintage-Favorites kann ich stundenlang erzählen.“Und ohne Pause, ihr Croissant liegt noch immer unangerührt vor ihr.
Dass Vintage-Mode oft die spannendere Geschichte erzählt, ist einer der Gründe, warum sie gerade so gehypt wird. Nachhaltigkeit – oder zumindest das Versprechen davon – ein anderer. Der zweite Markt boomt. Mel lächelt gequält, wenn sie auf diese Entwicklung angesprochen wird. „Vor allem die Preisentwicklung sehe ich kritisch: Professionelle reseller haben oft Margen, die ich einfach nicht gerechtfertigt finde. Und ich freue mich natürlich, dass viele neue Plattformen den Markt zugänglicher machen und die Suche erleichtern – aber ich liebe gerade dieses Wühlen! Die Kisten
auf Flohmärkten, die auf dem Boden stehen, an die keiner sonst rangeht. Das sind meine Kisten.“Sie lacht. Und, apropos Flohmarkt: „Diese Regionalität ist auch etwas, das verloren geht. Man kann ja online genauso einfach Vintage-Teile aus Japan oder den USA bestellen.“Und wie nachhaltig ist etwas noch, nachdem es einmal um die halbe Welt geschickt wurde?
„Es ist mittlerweile ein Statussymbol geworden, zu sagen: Oh mein Gott, ich trage nur Vintage, alles Designer und total teuer! Ich kaufe mir auch mal teurere Investment pieces, so ist es nicht. Aber ich bin eine Schnäppchenjägerin.“Eine Schnäppchenjägerin, die mit Luxushäusern wie Chanel und Yves Saint Laurent zusammenarbeitet? „Ich bin vielleicht nicht die, deren Follower alle Hunderttausende von Euro für Mode ausgeben können. Aber ich verkaufe ein Image. Man muss nicht head-to-toe Chanel sein, einzelne Pieces tun’s auch. Und vielleicht sehen auch Editors und Stylist*innen – Leute, die große Fotostrecken planen – meine Bilder und lassen sich davon inspirieren.“
Dafür hat sie mit ihrem Instagram-Account eine melancholisch-mysteriöse Nichtzeit gebaut – 80er, 90er, wer weiß das schon so genau, Hauptsache, es sieht nicht nach heute aus. Ob es ihr manchmal seltsam vorkommt, diese Welt aufrechtzuerhalten, bei allem, was da draußen in der „echten“vor sich geht? „Total. Als der Ukraine-Krieg begonnen hat, war ich gerade in Mailand auf der Fashion Week und ich dachte: Hier passiert jetzt erst mal gar nichts. Ich möchte nicht mit meinem Fashion-Content die Instagram-Feeds von Leuten fluten, wenn es gerade darum geht, wichtige Informationen zu teilen.“Bis sie irgendwann wieder anfing, zu posten. „Weil es für viele Leute auch ein Zufluchtsort ist.“
Natürlich ist es ein Privileg, sich entscheiden zu können, ob und wie politisch man sich online zeigt. „Allerdings habe ich tierisch Angst, etwas Falsches zu sagen. Ich bin ein visueller Mensch, ich bin nicht gut mit Worten. Es geht mir nicht darum, Follower zu verlieren – ich möchte niemanden verletzen.“Sie atmet tief ein. „Schon jetzt gerade versuche ich, nichts Falsches zu sagen, weil ich nicht rüberkommen will, wie eine ignorante Influencerin – das bin ich nicht.“Gleich hat Mel den nächsten Termin mit einer PRAgentur. Sie fährt einen Smart, von ihrer Mutter geliehen, ihr SL steht noch in der Werkstatt. Immerhin: im Warndreieck-Rot der Neunziger.
„Ich liebe es, in den Kisten am Boden zu wühlen, an die auf Flohmärkten sonst keiner rangeht.“