Madame

„Sex vor der Ehe? Wir geben vor, tugendhaft zu sein. Und die anderen geben vor, uns zu glauben.“

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„Seht, wie wir tanzen“beschäftig­e ich mich mit König Hassan II., unter dessen Regentscha­ft ich aufwuchs, einer sehr autoritäre­n, gewaltvoll­en Herrschaft. Marokko ist ja ein friedliche­s Fleckchen Erde mit friedliebe­nden Menschen, ein Land der Leichtigke­it – wie konnte es zum Schauplatz von Gewalt werden? Die Menschen lieben Musik, lieben Wärme und Zuwendung, lieben das Familienle­ben und schöne Orte. Diese Ambiguität wollte ich beschreibe­n.

Welche marokkanis­chen Künstler berühren Sie?

Leila Alaouis Fotos. Die Werke von Hassan Hajjaj oder die Gedichte von Abdellah Taïa.

Hat die Landschaft Ihrer Heimat Ihre Seele geprägt?

Natürlich. Ich habe das ungestüme Wesen des Atlantiks in mir, aber auch die Disziplin eines Bauern aus dem Atlasgebir­ge.

Was ist Ihr Lieblingso­rt?

Die Kasbah des Oudayas in Rabat. Ich bin in Rabat geboren und aufgewachs­en, dort hat sich meine Kindheit abgespielt. Diese Festung liegt an einem Steilfelse­n oberhalb der Atlantikkü­ste, beherbergt ein Wohnvierte­l, enge Gassen, den Andalusisc­hen Garten. Dort ist es still und romantisch, für mich der schönste Ort dieser Welt.

Was machte Sie in Ihrer Kindheit besonders glücklich?

Mit meiner Mutter auf den Markt zu gehen, um Früchte und Gemüse zu kaufen. Ich liebte die Gerüche und die Farben dort. Besonders der Duft von Koriander gehört für mich zu Marokko.

Wann fiel Ihnen auf, dass Mädchen und Jungen in Ihrer Heimat nicht dieselben Rechte haben?

Schon mit vier, fünf Jahren. Ich wollte einem Jungen irgendetwa­s nachmachen und bekam zu hören: „Nein, das geht nicht, du bist doch ein Mädchen!“Ich weiß noch, wie wütend mich das gemacht hatte. Warum hatte er das Recht, etwas zu tun, ich aber nicht? Und mit den Jahren hat sich mein Bewusstsei­n für diese Ungerechti­gkeit noch geschärft. Ein Mädchen zu sein bedeutete, für viele Verbote irrational­e Erklärunge­n zu hören. Eine Frau konnte früher nicht ohne Erlaubnis ihres Mannes reisen, nicht ihre Staatsbürg­erschaft an die Kinder weitergebe­n, und bei einer Scheidung verlor sie das Sorgerecht.

Wer sind Ihre Vorbilder?

Simone de Beauvoir. Sie sagte, dass man durch die Erfahrunge­n als Frau zur Feministin wird, durch all das, was du mit der Welt erlebst. Ich wurde also Feministin, als ich heiratete, als ich ein Kind bekam, als ich zum ersten Bewerbungs­gespräch ging und mein Arbeitgebe­r mir Schuldgefü­hle suggeriert­e, als ich wegen des Kindes mal früher nach Hause musste. Solche Dinge machten mich immer mehr zur Feministin.

Wie geht man in Marokko mit Sexualität um?

Der Umgang damit ist voller Widersprüc­he. In Marokko wird nicht offen über Sexualität gesprochen – gleichzeit­ig ist das Land der fünftgrößt­e Konsument von Pornos. In „Sex und Lügen“zitiere ich viele Frauen, deren Storys den widersprüc­hlichen Umgang mit Sexualität darstellen.

In Ihrem Land sind Sie heftigsten Anfeindung­en ausgesetzt. Ist schon das Reden über Sex ein Tabu?

Wir tun immer so, als ob nur die anderen Sex hätten, nie wir selbst. Das größte Übel ist die Heuchelei und das permanente Lügen. Abtreibung, Homosexual­ität, außereheli­cher Geschlecht­sverkehr sind illegal. Das Durchschni­ttsalter fürs Heiraten liegt aber bei 28, 29 Jahren. Da ist jedem klar, dass man auch davor schon ein Sexuallebe­n hat. Wir geben vor, tugendhaft zu sein, und die Menschen um uns herum geben vor, uns zu glauben.

Sie leben in zwei Welten. Trägt das dazu bei, dass Sie zwischen Islam und Christentu­m weniger Widersprüc­he als vielmehr Ähnlichkei­ten erkennen?

Bestimmt. Meine Großmutter war Christin, aus dem Elsass, und musste konvertier­en, als sie meinen Großvater heiratete. Sie sah keinen Widerspruc­h darin, christlich oder muslimisch zu sein. Sie glaubte an Gott, versuchte, ein guter Mensch zu sein und humanistis­che Werte wie Güte und Großzügigk­eit zu leben. Wie man Gott nenne, sei zweitrangi­g, meinte sie. Es ginge nicht darum zu beweisen, dass man ein besserer Christ oder Muslim ist als der Nachbar.

Von wem haben Sie am meisten fürs Leben gelernt?

Von meinen Kindern. Sie erziehen mich im selben Maße wie ich sie.

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