AMY SHERALD
Artemisia, Frida & die anderen… Frauen erobern den Kunstmarkt und besetzen endlich erste Plätze in der Kunstgeschichte. Wir zeigen die Besten in ihren Werken. Folge 13: die Porträtistin Amerikas
Es ist wie ein plötzliches Verliebtsein“, Amy Sherald versucht „dieses gewisse Etwas“zu beschreiben, das dazu führt, dass sie jemanden auf der Straße anspricht, immer eine person of colour, und sie bittet, ihr Modell zu stehen. „Eine Augenblicksverliebtheit“, sagt die Künstlerin. Interesse und Sympathie für eine Person, die sie nach dem „Street-Casting“erst während des Malprozesses kennenlernt. Und wenn es stimmt, was man über die Porträts großer Bildnismaler, von Rembrandt oder van Dyck, sagt, dann scheint auch sie selbst in jedem dieser fotorealistischen Bildnisse auf. Eine zarte, leise Frau, Zahnarzttochter aus Columbus, Georgia, die jahrelang kellnerte, um malen zu können. Und die heute zu den großen Meister*innen der zeitgenössischen Kunst zählt. Michelle Obama wünschte sich ihr Bildnis für die National Portrait Gallery von Amy Sherald, bei ihrer ersten Solo-Ausstellung in der Galerie von Hauser & Wirth in New York standen die Menschen um den ganzen Block Schlange, zuletzt wurde eines ihrer Porträts für über vier Millionen Dollar verkauft.
Stille, sprechende Bilder, ein stilisierter, magischer Realismus. Zwiegespräche mit Menschen, die aus den meist monochromen Bildgründen heraus- und den Betrachter ansehen. Amüsiert, selbstbewusst, flirty, distanziert, nachdenklich. Oder verträumt wie das Mädchen mit den Zöpfen, das, den Kopf etwas zur Seite gelegt, mit seinen hellen, goldenen Augen aus dem Bild schaut. Die Hände hat sie in die Taschen ihres Erdbeerkleids gesteckt. Ihr Mund ist rosa wie der Hintergrund. „Sie nennen mich Redbone, aber ich wäre lieber Emily Erdbeer“, hat Sherald das Mädchenporträt genannt. „Redbone“, sagt sie, sei ein Slangbegriff, der in der schwarzen Community noch oft für eine hellhäutige schwarze Frau benutzt werde. „Mein Basketballtrainer an der Highschool nannte mich so. Er war der einzige schwarze Lehrer an meiner Schule, und ich war eine von 20 schwarzen Schülerinnen unter 400 weißen. Es war ein nickname, aber auch eine unausgesprochene kulturelle und rassische Kameraderie, die darin mitschwang.“Andererseits sei es auch ein Begriff, der zur Entfremdung verwendet werde. „Jemand aus meiner eigenen ethnischen Gruppe könnte mich ‚Red‘ nennen“, sagt Sherald, „um mich wegen meiner hellen Hautfarbe auszugrenzen.“Da gäbe es noch immer eine gewisse „Plantagenmentalität“, meint sie und erklärt: „Im Grunde ist dieses Gemälde also das Bild eines Mädchens, das dem ‚Anderssein‘ von zwei Seiten –Schwarz und Weiß – entkommen will.“
Das will sie auch. Nach den Erfahrungen als „black Amy“an ihrer Schule in Georgia studiert sie Kunst am Spelman College der Clark Atlanta University und am Maryland Institute of Art, bereist die Welt, arbeitet in Südamerika und geht 2011 für ein Jahr nach Larvik in Norwegen, um bei dem Maler Odd Nerdrum die klassische Grisaille-Technik zu erlernen, eine Methode, bei der monochrom in Grau gemalt wird, um einen dreidimensionalen Effekt zu erzielen. Grisaille für die Hauttöne, ein unbestimmtes, flirrendes Oszillieren zwischen hell und dunkel, wo doch ihre künstlerischen Vorbilder, die Porträtmaler Barkley L. Hendricks und Kerry James Marshall eine Generation zuvor, gerade die Hautfarbe in den Vordergrund rückten. Schwarze Menschen waren, wenn
überhaupt, nur als exotisch-erotischer Sidekick „bildwürdig“, das galt es zu ändern. Allerdings hält Sherald die fotorealistische Darstellung von Rasse – eine Qualität, die durch die Augen anderer bestimmt wird – für eine Sackgasse. „Ich bin so viel mehr als meine Hautfarbe, ein jüdisch-deutsch-afrikanischer Mix, aber auch eine Frau, die Tochter einer starken Mutter“, sagt die Künstlerin, deren Familie einen der ältesten afroamerikanischen Barber-Shops in Georgia betrieb und die heute mit ihrem Mann Kevin Pemberton in New Jersey lebt. Grau, umgeben von leuchtender Farbe. Bilder, in denen sich ein Dialog entspinnt. Auf Sheralds Grisaille-Porträt einer jungen Frau in Jeans fällt der Blick zuerst auf die Regenbogenfarben ihres Oberteils, dann auf ihren verlegenangespannten Griff zum Hals und ihren skeptischen Blick. Dass sie schwarz ist? Kein
Gedanke daran, nur dass ihre Pose in seltsamer Diskrepanz zum Bildtitel steht, der besagt, sie habe gelernt „Momente um ihrer selbst willen zu lieben“.
Was das bedeutet, weiß Amy Sherald nur zu gut. 2012 wird ihr nach Jahren der Qual ein zweites Leben geschenkt, mit 39 bekommt sie eine Herztransplantation. „Ein Monat später und es wäre vorbei gewesen“, erzählt sie im Gespräch mit dem Autor Ta-Nehisi Coates. „Seither habe ich keine Angst mehr. Ich mache weiter für Kristin, meine Spenderin, und für meinen Bruder Michael, der an Lungenkrebs gestorben ist. Ich lebe weiter, um zu malen.“Bilder von Menschen, die oft durch eine modische Besonderheit auffallen und dem Betrachter etwas über ihre Träume und Sehnsüchte zuflüstern, ihn in ihre Welt, in ihre Gedanken hineinlocken. Äußerlichkeiten, die zur Innerlichkeit werden. Die beiden Surfer etwa, ein schwarzes Paar. Surfer? Dabei denkt man an braun gebrannte junge Weiße. Hat Sherald ihr Porträt aus dem Jahr 2020 – die erste Darstellung schwarzer Surfer überhaupt – deshalb „Einen Ozean entfernt“genannt? Oder ist die Kluft des Schweigens gemeint, die sich unversehens zwischen dem Paar in Gummianzügen auftut? Alles zum ersten Mal: „In unserer Familie war es nicht üblich, ein Porträt von sich malen zu lassen“, sagt Michelle
„One ocean away“, 2020, Öl auf Leinwand, 330 x 274 x 6,4 cm, Hauser & Wirth
AMY SHERALD,
bei der Ausstellung „The Time is Always Now. Artists reframe the black figure.“National Portrait Gallery, London, bis 19.5.2024 „She was learning to love moments, to love moments for themselves“, 2017, Öl auf Leinwand, 137,5 x 109,2 cm, Hauser & Wirth
DIE KÜNSTLERIN SAGT: „Ich male alltägliche amerikanische Menschen und Szenen, die nicht in den Kanon der Kunst aufgenommen wurden. Menschen und Geschichten, die ich erlebt habe. Als ich während meines Studiums die Fotografie schwarzer Amerikaner entdeckte und die Anmut und Würde sah, mit der wir trotz Jim Crow und Rassentrennung überlebten, hat mich das in meiner Entscheidung bestärkt. Wenn man die afroamerikanische Geschichte und ihre Verbindung zum Blick betrachtet, konnte oft schon ein Blick zur Lynchjustiz führen. Ich wollte, dass meine
Obama bei der ersten Begegnung mit Sherald. Augenblicksverliebtheit, diesmal von beiden Seiten. Sherald erkennt Obama als „Archetyp, mit dem sich viele Frauen identifizieren können, unabhängig von ihrer Gestalt, Bekanntheit, Rasse oder Hautfarbe. Wir sehen unser bestes Selbst in ihr.“Der Betrachter steht der First Lady auf Augenhöhe gegenüber, die Dreiecksform (wie ein Felsen sitzt sie vor lichtem Blau) zieht den Blick von unten nach oben. Sie blickt uns an, woran sie denkt? Plötzlich fallen einem zwei Sätze ein. Der erste, dass sie beim Einzug ins Weiße Haus daran dachte, dass es Sklaven waren, die es bauten. Und der zweite, angesichts der Niveaulosigkeit des Trump-Lagers: „When they go low, we go high.“
Was es für die schwarze Community bedeutet, dass Sheralds Porträts heute in den großen Museen der Welt hängen, wird am Beispiel von Breonna Taylor deutlich. Im März 2020 wurde die Rettungssanitäterin bei einem Polizeiübergriff in Kentucky getötet und wie der erstickte George Floyd zum Stein des Anstoßes der „Black Lives Matter“-Proteste. Amy Sherald porträtiert Breonna posthum für das Cover der „Vanity Fair“, im türkisen Kleid vor blauem Fond, der ihre Haut en grisaille leuchten und das Kreuzkettchen um ihren Hals golden aufglimmen lässt, und sie steckt ihr den Verlobungsring an, mit dem ihr Freund sie am Tag ihres Todes überraschen wollte. Breonnas Mutter war überwältigt. „Ich konnte es nicht glauben. Das Bild zeigt genau ihren Charakter und wer sie war. Nicht in einer Million Jahren hätte ich gedacht, dass sie im Museum landen würde. Mir fehlen die Worte. Es ist ein Segen, die Leute werden von überall her kommen, um sie zu sehen.“Man fühlt Breonnas Stärke, fühlt ihr Lächeln auf dem eigenen Gesicht. Sie lebt in Sheralds Bild. Auch die wunderbare Ruhe des Arbeiters auf dem Baugerüst, hoch oben im Blau, kommt über uns, „Wenn Du Dich der Luft hingibst, kannst Du darauf reiten“, so der Titel, ein Zitat aus Toni Morrisons Roman „Solomons Lied“. Woher dieser Zauber rührt? „Ich glaube, es gibt eine Energieübertragung zwischen dem Modell, mir und dem Gemälde“, sagt die Künstlerin, die täglich 13 Medikamente einnehmen muss, „Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber da ist ein Gefühl von Ewigkeit.“
„Breonna Taylor“, 2020, Öl auf Leinen, 137,2 x 109,2 cm, Speed Art Museum, Louisville „Michelle Obama“, 2018, Öl auf Leinwand, National Portrait Gallery, Washington, D. C. „If you surrendered to the air, you could ride it“, 2019, Öl auf Leinwand, 330,3 x 274,3 x 6,4 cm, Hauser & Wirth
Porträtierten hinausschauen und dem Blick des Betrachters begegnen, auch wenn sie angestarrt werden. Im Grunde ist das der Beginn des Selbstseins: eine Selbstbetrachtung, die nicht auf die Umgebung reagiert. Das Gesicht ist der wichtigste Teil des Porträts, und die Augen sind der wichtigste Teil des Gesichts. Ich hänge meine Bilder etwa einen Fuß tiefer, als sie normalerweise in Museen aufgehängt werden. Ich möchte, dass Sie sich einem meiner Porträts nähern, und anstatt nach oben zu schauen, möchte ich, dass Sie direkt in die Augen der Person auf dem Gemälde schauen.“