Florafantastica
Wer blüht, für den ist immer Frühling. Victoire de Castellane, Diors Juwelen-Zauberin, entwirft aus Steinen Gärten der Fantasie
Fliegen. Hinaus aus dem weißen Salon mit den Kristalllüstern, durch die hohen Fenster, hoch über die Avenue Montaigne und über die Dächer von Paris, hinauf ins Blaue. „Fliegen können!“, schwärmt Victoire de Castellane, und ihre schrägen Augen leuchten, „das habe ich mir schon als Kind gewünscht. Und auch heute träume ich noch oft davon, wie es wäre, die Flügel auszubreiten und den Wind zu spüren.“Ein Gefühl, das sie eigentlich kennen müsste, denn als Chef-Designerin der Haute Joaillerie von Dior hat sie einige Höhenflüge aufzuweisen. Spektakuläre Juwelenkollektionen, die sich aus Christian Diors Gedankenwelt und seiner Couture speisen. Aber nicht nur. „Ich lasse mich davon anregen, ich liebe es, in den Archiven zu kramen“, erklärt de Castellane, „aber dann schlage ich meinen eigenen Weg ein, die Geschichte verselbstständigt sich in mir.“Anders als viele Schmuck-Designer gehe sie nie vom Material, nie von den Steinen aus; „alles, was ich sehe, inspiriert mich, Märchen, Kunst, Kurzwaren, Psychoanalyse – eine Blume kann einen ganzen Film auslösen“, erklärt sie. Aus einem Stück entstehe ein zweites, dann eine ganze Kollektion. „Ich erzähle Geschichten. Nicht mit Worten, mit Linien, Farben, Atmosphären.“Die Natur ist ihre größte Stil-Ikone. „Diese Vielfalt, was für eine Exzentrik! Da gibt es nichts, was es nicht gibt.“Erst gestern sei sie „an einem kleinen Blumenladen vorbeigefahren, der so aussah als ob die riesigen Gladiolen, Strelitzien, Rosen und Callas Türen und Fenster sprengen wollten.“Diese Kraft hat sie in ihren frühen, sehr eruptiven Stücken aus den Nineties und Nullerjahren eingefangen, während sie 2023 in ihrer Kollektion „Le Jardin de la Couture“eine muntere kleine Märchenwelt mit Regenbogen, Sonne und Wolken, summenden Bienen, Marienkäferchen, Spalierbäumen und Funkelblumen auf weißem Perlmuttfond herbeigezaubert hat. Farbige Edelsteinstickereien en miniature. Zwischen diesen beiden Polen – hier feinstes Lupenkino, dort die große Juwelen-Oper – pendeln ihre Dessins. Seit den 2010er-Jahren ist ein Hang zur Abstraktion in ihren Entwürfen spürbar. Konventioneller sind die Stücke
deshalb aber keineswegs. „Ich suche immer das Unerwartete, das Abenteuer.“„Fleurs d’excès“oder „Animalvegetablemineral“hat sie vor Jahren ihre Ausstellungen in der Londoner Gagosian Gallery genannt. Schmuckstücke auf Steinsockeln. „Un bijou au repos“, sagte sie dazu. Ein schlafendes Juwel, das darauf wartet, lebendig zu werden und getragen zu werden, auf einer Brust zu atmen, mit einer Hand zu gestikulieren. Colliers, die aussehen wie fleischfressende Pflanzen, Ohrgehänge und Ringe mit planschbeckenblauen Blättern, deren aufgerollte Enden rot lackierten Fingernägeln gleichen, Blüten mit goldenen Staubfäden, an denen erbsengroße Diamanten schaukeln, Juwelen zum Preis einer Pariser Eigentumswohnung, aber auch „Mimi-oui“, den kleinsten Ring der Welt hat sie erfunden, mit einem winzigen Diamanten, der wie ein Tautropfen an einem spinnwebfeinen Goldfaden zittert.
Schmuck, so zart und wild, spektakulär und schillernd wie sie selbst. „Wäre ich ein Edelstein, dann ein Opal, weil in ihm ein Feuer glimmt und seine Farbe ständig wechselt.“Madame la Comtesse trägt zu hohen Wangenknochen und schrägen „Kirgisenaugen“das rotblonde Haar lang, mit Pony. Prinzen, Marschälle, Erzbischöfe zählen zu ihren Vorfahren, ihre Urahnin, die Comtesse de Polignac, war die Busenfreundin Marie-Antoinettes, sie ist die Urgroßnichte von Boni de Castellane, des großen Dandys der Belle Époque, und die Nichte von Gilles Dufour, der irgendwann seinem Freund Karl Lagerfeld von ihr erzählt. Ein Mädchen, das ein goldenes Familienmedaillon einschmelzen lässt, das es zur Erstkommunion bekommen hat, weil es daraus partout „etwas ganz und gar Wunderbares“machen will.
Mit 18 holt Lagerfeld „La petite Castellane“, die nichts auslässt, was das Pariser Nachtleben der Achtziger so glamourös
macht, zu Chanel. Dort gründet sie die Sparte „bijoux fantaisie“, bevor sie 1998, nach 14 Jahren, zu Dior wechselt. LVMH-Patron Bernard Arnault vertraut ihr die Haute Joaillerie an. „Ich durfte Schmuck erfinden, den es so noch nie gegeben hatte.“Sie revolutioniert ein Metier, das sich zuvor oft genug darin erschöpfte, teure Steine in klassisch-langweiligen Fassungen zu präsentieren. „Statement Pieces, mon dieu!“, de Castellane holt tief Luft. „Ich hasse es, wenn an Schmuck dieses imaginäre Preisschild klebt. Erinnern Sie sich noch, wie es war, wenn man an einem Kaugummiautomaten eine dieser Plastikkugeln mit einem kleinen Schatz gezogen hatte? Dieses Gefühl meine ich, genau diese Freude möchte ich hervorrufen. Meine Währung sind Emotionen, nicht Konventionen.“Auch was das Kunsthandwerk selbst betrifft. „Als ich einmal nicht den richtigen Goldton für ein Stück finden konnte, kam mir die Idee, das Gold lackieren zu lassen – ‚de l’or laqué!‘ Die Gesichter der Goldschmiede hätten Sie sehen sollen. Heute sind es die Handwerker selbst, die keine Grenzen mehr kennen.“Und noch ein Kompliment: „Eine Dame sagte mir bei einem Essen, dass sie sich extra Löcher habe stechen lassen, um ein Paar meiner LackOhrringe tragen zu können. Sie war 85!“Sowieso, das „Schöner-dünner-jüngerSpiel“hat sie selbst nie mitgespielt. „Was für eine Zeitverschwendung! Es wird immer jemand geben, der schöner oder klüger ist als ich.“Auch kreativer? „Dieses Wort kann man nicht steigern“, Victoire de Castellane lacht. Überhaupt fühle sie sich auch nach so vielen Jahren im Atelier noch immer wie im Wunderland. Das sei mit nichts zu vergleichen. Obwohl, vielleicht doch. „So stelle ich mir das Fliegen vor!“