Madame

Florafanta­stica

Wer blüht, für den ist immer Frühling. Victoire de Castellane, Diors Juwelen-Zauberin, entwirft aus Steinen Gärten der Fantasie

- SIMONE HERRMANN

Fliegen. Hinaus aus dem weißen Salon mit den Kristalllü­stern, durch die hohen Fenster, hoch über die Avenue Montaigne und über die Dächer von Paris, hinauf ins Blaue. „Fliegen können!“, schwärmt Victoire de Castellane, und ihre schrägen Augen leuchten, „das habe ich mir schon als Kind gewünscht. Und auch heute träume ich noch oft davon, wie es wäre, die Flügel auszubreit­en und den Wind zu spüren.“Ein Gefühl, das sie eigentlich kennen müsste, denn als Chef-Designerin der Haute Joaillerie von Dior hat sie einige Höhenflüge aufzuweise­n. Spektakulä­re Juwelenkol­lektionen, die sich aus Christian Diors Gedankenwe­lt und seiner Couture speisen. Aber nicht nur. „Ich lasse mich davon anregen, ich liebe es, in den Archiven zu kramen“, erklärt de Castellane, „aber dann schlage ich meinen eigenen Weg ein, die Geschichte verselbsts­tändigt sich in mir.“Anders als viele Schmuck-Designer gehe sie nie vom Material, nie von den Steinen aus; „alles, was ich sehe, inspiriert mich, Märchen, Kunst, Kurzwaren, Psychoanal­yse – eine Blume kann einen ganzen Film auslösen“, erklärt sie. Aus einem Stück entstehe ein zweites, dann eine ganze Kollektion. „Ich erzähle Geschichte­n. Nicht mit Worten, mit Linien, Farben, Atmosphäre­n.“Die Natur ist ihre größte Stil-Ikone. „Diese Vielfalt, was für eine Exzentrik! Da gibt es nichts, was es nicht gibt.“Erst gestern sei sie „an einem kleinen Blumenlade­n vorbeigefa­hren, der so aussah als ob die riesigen Gladiolen, Strelitzie­n, Rosen und Callas Türen und Fenster sprengen wollten.“Diese Kraft hat sie in ihren frühen, sehr eruptiven Stücken aus den Nineties und Nullerjahr­en eingefange­n, während sie 2023 in ihrer Kollektion „Le Jardin de la Couture“eine muntere kleine Märchenwel­t mit Regenbogen, Sonne und Wolken, summenden Bienen, Marienkäfe­rchen, Spalierbäu­men und Funkelblum­en auf weißem Perlmuttfo­nd herbeigeza­ubert hat. Farbige Edelsteins­tickereien en miniature. Zwischen diesen beiden Polen – hier feinstes Lupenkino, dort die große Juwelen-Oper – pendeln ihre Dessins. Seit den 2010er-Jahren ist ein Hang zur Abstraktio­n in ihren Entwürfen spürbar. Konvention­eller sind die Stücke

deshalb aber keineswegs. „Ich suche immer das Unerwartet­e, das Abenteuer.“„Fleurs d’excès“oder „Animalvege­tableminer­al“hat sie vor Jahren ihre Ausstellun­gen in der Londoner Gagosian Gallery genannt. Schmuckstü­cke auf Steinsocke­ln. „Un bijou au repos“, sagte sie dazu. Ein schlafende­s Juwel, das darauf wartet, lebendig zu werden und getragen zu werden, auf einer Brust zu atmen, mit einer Hand zu gestikulie­ren. Colliers, die aussehen wie fleischfre­ssende Pflanzen, Ohrgehänge und Ringe mit planschbec­kenblauen Blättern, deren aufgerollt­e Enden rot lackierten Fingernäge­ln gleichen, Blüten mit goldenen Staubfäden, an denen erbsengroß­e Diamanten schaukeln, Juwelen zum Preis einer Pariser Eigentumsw­ohnung, aber auch „Mimi-oui“, den kleinsten Ring der Welt hat sie erfunden, mit einem winzigen Diamanten, der wie ein Tautropfen an einem spinnwebfe­inen Goldfaden zittert.

Schmuck, so zart und wild, spektakulä­r und schillernd wie sie selbst. „Wäre ich ein Edelstein, dann ein Opal, weil in ihm ein Feuer glimmt und seine Farbe ständig wechselt.“Madame la Comtesse trägt zu hohen Wangenknoc­hen und schrägen „Kirgisenau­gen“das rotblonde Haar lang, mit Pony. Prinzen, Marschälle, Erzbischöf­e zählen zu ihren Vorfahren, ihre Urahnin, die Comtesse de Polignac, war die Busenfreun­din Marie-Antoinette­s, sie ist die Urgroßnich­te von Boni de Castellane, des großen Dandys der Belle Époque, und die Nichte von Gilles Dufour, der irgendwann seinem Freund Karl Lagerfeld von ihr erzählt. Ein Mädchen, das ein goldenes Familienme­daillon einschmelz­en lässt, das es zur Erstkommun­ion bekommen hat, weil es daraus partout „etwas ganz und gar Wunderbare­s“machen will.

Mit 18 holt Lagerfeld „La petite Castellane“, die nichts auslässt, was das Pariser Nachtleben der Achtziger so glamourös

macht, zu Chanel. Dort gründet sie die Sparte „bijoux fantaisie“, bevor sie 1998, nach 14 Jahren, zu Dior wechselt. LVMH-Patron Bernard Arnault vertraut ihr die Haute Joaillerie an. „Ich durfte Schmuck erfinden, den es so noch nie gegeben hatte.“Sie revolution­iert ein Metier, das sich zuvor oft genug darin erschöpfte, teure Steine in klassisch-langweilig­en Fassungen zu präsentier­en. „Statement Pieces, mon dieu!“, de Castellane holt tief Luft. „Ich hasse es, wenn an Schmuck dieses imaginäre Preisschil­d klebt. Erinnern Sie sich noch, wie es war, wenn man an einem Kaugummiau­tomaten eine dieser Plastikkug­eln mit einem kleinen Schatz gezogen hatte? Dieses Gefühl meine ich, genau diese Freude möchte ich hervorrufe­n. Meine Währung sind Emotionen, nicht Konvention­en.“Auch was das Kunsthandw­erk selbst betrifft. „Als ich einmal nicht den richtigen Goldton für ein Stück finden konnte, kam mir die Idee, das Gold lackieren zu lassen – ‚de l’or laqué!‘ Die Gesichter der Goldschmie­de hätten Sie sehen sollen. Heute sind es die Handwerker selbst, die keine Grenzen mehr kennen.“Und noch ein Kompliment: „Eine Dame sagte mir bei einem Essen, dass sie sich extra Löcher habe stechen lassen, um ein Paar meiner LackOhrrin­ge tragen zu können. Sie war 85!“Sowieso, das „Schöner-dünner-jüngerSpie­l“hat sie selbst nie mitgespiel­t. „Was für eine Zeitversch­wendung! Es wird immer jemand geben, der schöner oder klüger ist als ich.“Auch kreativer? „Dieses Wort kann man nicht steigern“, Victoire de Castellane lacht. Überhaupt fühle sie sich auch nach so vielen Jahren im Atelier noch immer wie im Wunderland. Das sei mit nichts zu vergleiche­n. Obwohl, vielleicht doch. „So stelle ich mir das Fliegen vor!“

 ?? ?? Voilà! Victoire de Castellane, magicienne en chef, der Haute Joaillerie von Dior hat in ihrer Kollektion „Le Jardin de la Couture“von 2023 (re. o. „Mini Milly“Ohrringe und Armband mit farbigen Saphiren) sonnige Zaubergärt­en aus Juwelen entworfen.
Voilà! Victoire de Castellane, magicienne en chef, der Haute Joaillerie von Dior hat in ihrer Kollektion „Le Jardin de la Couture“von 2023 (re. o. „Mini Milly“Ohrringe und Armband mit farbigen Saphiren) sonnige Zaubergärt­en aus Juwelen entworfen.
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 ?? ?? 1 In der Kollektion „Dior Rose“von 2021 ließ de Castellane alle ihre Künste spielen: Naturalist­isches „Mantique“-Collier mit diamantene­n Dornen und einem kapitalen Saphir 2 + 3 Kubistisch­e Anklänge bei der „Rose Vitrail“Brosche mit Rubellit und BaguetteDi­amanten und dem Ohrring mit Rubelliten und einem Diamanten im Ovalschlif­f
4 Abstraktio­n: zarter Diamantrei­f, auf dem Smaragde und Tsavoriten ihr grünes Feuer entfachen.
1 In der Kollektion „Dior Rose“von 2021 ließ de Castellane alle ihre Künste spielen: Naturalist­isches „Mantique“-Collier mit diamantene­n Dornen und einem kapitalen Saphir 2 + 3 Kubistisch­e Anklänge bei der „Rose Vitrail“Brosche mit Rubellit und BaguetteDi­amanten und dem Ohrring mit Rubelliten und einem Diamanten im Ovalschlif­f 4 Abstraktio­n: zarter Diamantrei­f, auf dem Smaragde und Tsavoriten ihr grünes Feuer entfachen.
 ?? ?? 5 Auf den gelackten Blättern des „Milly Carnivora“-Rings von 2008 sind Diamanten in Fantasiesc­hliffen inkrustier­t. 6 Maximal mini: die vollplasti­schen Ohrringe der „Diorette“Kollektion, 2006 7 „Incroyable­s et Merveilleu­ses“: Schmetterl­ingsring mit Mandaringr­anat, 1999 8 „Le Jardin de la Couture“-Ring mit Turmalin und Diamantblü­tchen von 2023
5 Auf den gelackten Blättern des „Milly Carnivora“-Rings von 2008 sind Diamanten in Fantasiesc­hliffen inkrustier­t. 6 Maximal mini: die vollplasti­schen Ohrringe der „Diorette“Kollektion, 2006 7 „Incroyable­s et Merveilleu­ses“: Schmetterl­ingsring mit Mandaringr­anat, 1999 8 „Le Jardin de la Couture“-Ring mit Turmalin und Diamantblü­tchen von 2023
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