Märkische Oderzeitung Eberswalde
„Die Zukunft liegt in meinen Händen“
Sarah Wiener Auch nach ihrer Covid-erkrankung und der Insolvenz ihrer beiden Restaurants bleibt die Köchin und Eu-parlamentarierin optimistisch. Ein Gespräch über Massentierhaltung, die Macht der Lobbyisten und das große Glück im eigenen Garten.
Sarah Wieners Art über Essen zu sprechen, hat etwas Verführerisches. Man hat sie vor Augen, wie sie an einem Brokkoli schnuppert oder die Schönheit einer Karotte bewundert. Schon als Kind sei sie fasziniert davon gewesen, wie aus Eiern, Butter und Mehl ein fluffiger Kuchen entstehe. „Das ist das größte Glück“, sagt die 58-Jährige im Telefoninterview. Ihre Leidenschaft für Lebensmittel hat die Tv-köchin bis ins Eu-parlament geführt, wo sie seit 2019 für bessere Bedingungen in der Nahrungsindustrie kämpft. Die meiste Zeit verbringt die Deutsch-österreicherin wegen Corona im Moment allerdings auf ihrem Biobauernhof in der Uckermark. Die Entschleunigung tut ihr gut. Im Herbst war sie an Covid-19 erkrankt. Seither gebe es immer wieder Tage, an denen sie die Erschöpfung niederstrecke. „Aber gut, so ist es jetzt“, sagt Wiener und lacht. Jammern liegt ihr nicht.
Frau Wiener, Fernsehköchin, Autorin, Unternehmerin, Bäuerin und jetzt auch noch Politikerin. Hand aufs Herz: Langeweile ist nicht Ihr Ding, oder?
Doch, total. Ich liebe die Langeweile. Ich mag es, die Stunden zu verpennen und vor mich hinzuträumen. Ich bin alles andere als ein Workaholic. Mein Engagement resultiert aus der Leidenschaft für bestimmte Themen. Gerade wenn es um Lebensmittel geht. Wenn mich etwas interessiert, dann will ich mehr wissen und fange an zu graben. Dann lese ich über Invitro-fleisch, über verseuchte Böden, über mit Schadstoffen belastete Muttermilch.
Und am Ende sitzen Sie im Eu-parlament …
… und mache das zum Beruf, was ich davor auch schon gemacht habe: Menschen über unsere Ernährungsindustrie und gute Lebensmittel zu informieren.
Als Berufspolitikerin können Sie Vollgas geben, als Gastronomin wurden Sie 2020 ausgebremst: Für Ihre beiden Berliner Restaurants und Ihren Cateringbetrieb mussten Sie Insolvenz anmelden. Und dann sind Sie im Herbst auch noch selbst an Corona erkrankt. Wie haben Sie das weggesteckt?
Ich hätte nicht Insolvenz anmelden müssen, hielt es in Absprache mit meinen Partnern mit Blick auf die Entwicklung der Corona-krise aus unternehmerischer Sicht aber für das Vernünftigste. Und wir haben Recht behalten. Wirklich aufgerichtet hat mich eine gewisse Dankbarkeit über meine Situation. Ich bin glimpflich davongekommen. Auch gesundheitlich. Ich lag zwar wochenlang schlapp auf dem Sofa, musste aber immerhin nicht ins Krankenhaus. Und wenn ich will, kann ich wieder ein Restaurant eröffnen. Die Zukunft liegt in meinen Händen. Dieser Gedanke hat mir geholfen, nach einer Zeit der Trauer wieder aufrecht durchs Leben zu gehen.
Sind Sie sauer über die politischen Entscheidungen, die letztlich zur Schließung Ihrer Betriebe geführt haben?
Nein, ganz im Gegenteil. Ich finde es richtig und wichtig, dass die Gesundheit vor wirtschaftliche Interessen gestellt wurde. Wir kommen in Deutschland auch vergleichsweise gut durch die Krise.
Gastronomen, die eine Familie zu versorgen haben, sehen das wahrscheinlich anders. Was sagen Sie denen?
Ich sehe die vielen Einzelschicksale, und ich kann sie verstehen. Aber was sollen wir machen? Die Seuche verbreitet sich von Mensch zu Mensch. Niemand hat dieses Virus erfunden, um die Leute zu quälen. Das Tröstliche ist ja, dass bei uns die allermeisten nicht ins Bodenlose fallen. Es gibt Hilfen.
Können Sie der Pandemie persönlich etwas Positives abgewinnen?
Auf jeden Fall. Ich erlebe zum ersten Mal die Jahreszeiten in meinem Garten. Und ich sehe, wann es hell und dunkel wird. In Brüssel tappe ich in der Dunkelheit in ein Gebäude hinein, in dem man die Fenster nicht öffnen kann, und tappe in der Dunkelheit wieder hinaus. Hier in der Uckermark kann ich jeden Tag kochen. Ich bin wieder Herrin meines eigenen Herds und meines eigenen Darms. Das ist doch super.
Wie ist das Essen in Brüssel denn?
Entweder Sie gehen in die Kantine oder Sie snacken sich mit ungesunden Produkten durch den Tag. Oder Sie kochen heimlich im Ihrem Büro, was natürlich nicht gern gesehen ist, deshalb mache ich das natürlich nie (lacht).
Seit bald zwei Jahren sitzen Sie für die österreichischen Grünen im Europa-parlament. Was war Ihre Motivation, in die Politik zu gehen?
Es war nicht mein Plan, Politikerin zu werden. Ich bin gefragt worden und dachte, dass das doch eine sinnvolle Aufgabe ist. Nicht mehr nur reden, sondern sehen, ob ich selbst politisch Einfluss nehmen kann. Und weil Landwirtschaftspolitik, die Kennzeichnung von Lebensmitteln, Tierschutzstandards, Tiertransportstandards, all diese Themen auf Eu-ebene verhandelt werden, bin ich da auch richtig.
Hilft Ihnen Ihr Promi-status in Brüssel oder ist er eher hinderlich?
Beides. Einerseits habe ich dadurch wahrscheinlich mehr öffentliche Wahrnehmung als jemand anderes, der frisch ins Parlament gewählt worden ist. Andererseits ist das schon eine andere Welt. Ich bin ja Handwerkerin, keine Intellektuelle. Ich kenne viele Absprachen und Rituale nicht. Als Unternehmerin bin ich außerdem gewohnt, schnelle Entscheidungen zu fällen und eine Win-winsituation für alle zu finden. Das läuft im Parlament anders. Hier werden vor allem die konservativen Kräfte teils seit Jahrzehnten von Lobbyisten bearbeitet. Sehr oft wird da für die Detailinteressen von bestimmten Wirtschaftssparten gekämpft. Da ist es für eine Minderheitenfraktion wie die meine schon extrem zäh, etwas voranzubringen.
Ist ein Systemwandel in der Eu-agrarpolitik, wie ihn Kritiker fordern, überhaupt möglich?
Es wäre möglich, wenn der politische
Wille da wäre, sich nicht mehr zum Büttel einzelner Wirtschaftszweige zu machen. Die wissenschaftliche Evidenz, dass das System, wie wir es kennen, gegen die Wand gefahren ist, gibt es jedenfalls. Seit Jahrzehnten beobachten wir ein immenses Bauernsterben, eine Verarmung der Artenvielfalt, eine Zunahme an Umweltgiften in unserer Nahrung, die uns krank machen. Warum machen wir das mit? Weil wir es mit verkrusteten Strukturen zu tun haben, denen es an Mut und Weitsicht fehlt. Wir müssen uns heute fragen, wie wir in Zukunft leben wollen und handeln.
Sie fordern einen radikalen Wandel in der Ernährungswirtschaft. Wie soll der aussehen?
Wir brauchen andere Subventionspraktiken und zum Beispiel eine bodengebundene Tierhaltung. Sprich: Wir halten nur so viele Tiere, wie wir wesensgemäß auf der Fläche ernähren können.
Wir drehen das Rad also zurück.
Ich würde eher sagen, dass wir es wieder in die richtige Richtung drehen. Heute wissen wir so viel mehr darüber, was gut für alle ist, Mensch, Tier und Natur. Die Zucht von Hochleistungstieren, die nach vier, fünf Jahren einen Burn-out haben und mit übelsten Leiden von Euterentzündungen bis hin zu Klauenkrankheiten kämpfen, gehört mit Sicherheit nicht dazu. Ganz schlimm ist es bei der Pute. Sie ist das am dritthäufigsten geschlachtete Tier in der EU, und außer in Österreich gibt es nicht einmal Mindeststandards bezüglich der Haltung. Puten werden die Schnäbel weggelasert, sie stehen dicht an dicht. Der Antibiotikaeinsatz
in einer solchen Massentierhaltung und die daraus entstehenden Resistenzen sind ein Riesenproblem. Das ist das Gegenteil von gesund und genussvoll.
Was muss noch getan werden?
Wir müssen vorhandene Instrumente besser nutzen. In der EU gilt das Vorsorgeprinzip. Wenn wir das wirklich ernst nehmen würden, müssten sehr viele Zusatzstoffe, die in Lebensmitteln oder auch Kosmetika stecken, sofort verboten werden. Und wir brauchen eine wissenschaftliche, politische und gesellschaftliche Diskussion über Landwirtschaftssysteme und darüber, was möglich ist. Die allermeisten Menschen wissen nichts über Landwirtschaft.
Der Einsatz von Antibiotika in der Massentierhaltung ist das Gegenteil von gesund und genussvoll.
Ich liebe die Langeweile. Ich mag es, die Stunden zu verpennen und vor mich hinzuträumen.
Viele konventionelle Bauern wollen lieber weniger als mehr Vorgaben. Sie fühlen sich von der EU gegängelt, etwa beim Einsatz von Pestiziden. Können Sie deren Wut nicht verstehen?
Bauern machen oft den Fehler, zu denken, dass die großen Industriekonzerne ihre Helfer und Freunde sind. Sie lassen sich instrumentalisieren und machen das Naheliegende. Wenn Sie schon in der Landwirtschaftsschule das Modell Pestizid plus Mineraldünger plus Hochleistungssorten lernen, dann verteidigen Sie das später auch. Die ökologische Landwirtschaft kommt in Forschung und Lehre kaum vor.
Der radikale Wandel würde aber auch bedeuten, dass Lebensmittel teurer würden. Das könnten sich nicht alle leisten.
Wir müssen aufpassen, dass wir die ökologische nicht mit der sozialen Frage vermengen und gegeneinander aufwiegen. Wenn wir uns um unser Wohlbefinden und unsere Natur sorgen, gibt es am Ende keine Alternative. Industriell schwerst verarbeitete Lebensmittel schaden unserer Gesundheit und nehmen uns die Vielfalt vom Teller. Die Zeche zahlen vor allem schlecht bezahlte Menschen, die sich wiederum genau nur diese Nahrungsmittel leisten können oder wollen.
Corona hat viele Missstände offengelegt, Stichwort Schlachthofskandale. Glauben Sie, dass die Krise den Wandel beschleunigen kann?
Das sehe ich nicht. Dafür müsste die Politik die Rahmenbedingungen schaffen, damit es für alle einfacher wird, das Richtige zu tun. Stattdessen wird viel dafür getan, das Elend zu verlängern.
Kann der Druck von unten kommen?
Ich hoffe und wünsche mir einen gesellschaftlichen Konsens, fürchte aber, dass es mit den herrlichen Kochorgien, die wir in der Pandemie gesehen haben, vorbei sein wird, sobald unser alter Alltag mit Doppel- und Dreifachbelastungen zurückkehrt. Selbst wenn man das Richtige tun will, wird es einem einfach viel zu schwer gemacht. Wenn ich etwas kaufe, wo das Etikett lügt, wo nicht alle Inhaltsstoffe aufgelistet sind und dieses Produkt dann auch noch billiger oder einfacher verfügbar ist, dann wird es schwierig. Man kann sich nicht allein gegen das System stemmen. Da ist die Politik gefragt.