Märkische Oderzeitung Fürstenwalde
Die Rekordtüftler
Tiefstart, Drehstoß, Flop, V-Stil – Revolutionen in der Technik krempelten ganze Sportarten um
Fritz Hofmann traute seinen Augen nicht. In der Ausscheidung zum Endlauf für das erste olympische 100-Meter-Finale der Leichtathleten stand der Thüringer in der üblichen Haltung kraftvoll wie eine deutsche Eiche. Nur ganz leicht gebückt fixierte er das Zielband. Und was machte sein Kontrahent an jenem 6. April 1896 in Athen? Der Amerikaner Thomas Burke hockte sich mit einem merkwürdigen Buckel neben ihn und wartet in dieser Stellung auf das Kommando des Starters. Wenige Sekunden später wunderte sich der 25-jährige Hofmann noch mehr, denn der vier Jahre jüngere Sprinter aus Boston hatte ihn trotz des Aufholens aus der niederen Haltung mühelos abgehängt. Im Finale war der Amerikaner in 11,8 Sekunden ganze vier Zehntel schneller als der Zweitplatzierte Hofmann.
Der historische Start ist auf vielen handcolorierten Bildern nachvollzogen, und seitdem gilt Thomas Burke als Erfinder des heute üblichen Tiefstarts. Was jedoch ein Irrtum ist. Lange vor Burke experimentierte sein Landsmann Charles Hitchcock Sherrill mit dieser Methode und war dabei sehr erfolgreich. Mit dem von ihm 1888 erfundenen Tiefstart wurde der 1867 in Washington geborene Leichtathlet vier Jahre lang USHochschulmeister über 100 Yards. Die Ehre für Burke, dessen Todestag sich am 14. Februar zum 90. Male jährte, ist der weltweiten Aufmerksamkeit für die I. Olympischen Spiele der Neuzeit 1896 in Athen geschuldet.
Ideen zu neuen Techniken haben in der Leichtathletik ganze Disziplinen revolutioniert. Der junge Amerikaner Parry O’Brien ärgerte sich mächtig über die Niederlage bei einem Kugelstoß-Wettkampf 1951 in Stuttgart, als er die von ihm kurz zuvor in der Heimat bezwungene 17-Meter-Marke deutlich verfehlte. Dabei fiel dem 19-Jährigen auf, dass die Athleten am weitesten stießen, die die Kugel länger in Verbindung mit der Hand halten konnten. Er ersann eine Technik, bei der er mit dem Rücken zum Ziel stand und die Kugel erst nach einem Angleiten, einer Drehung und dem Gewichtswechsel auf das andere Bein abgefeuert wurde. Nach langem Üben im Keller seiner Eltern stellte sich der Sohn eines Iren und einer Russin wieder Wettkämpfen, war dann nahezu unschlagbar und stieß als erster Athlet sowohl über 18 als auch über 19 Meter.
Die ästhetische Technik von O’Brien ist jedoch bereits wieder im Aussterben, denn 1976 verblüffte der Sowjet-Riese Alexander Baryschnikow die Konkurrenz mit einer Drehstoß-Variante, die heute von nahezu der kompletten Weltspitze angewandt wird.
Der spanische Landwirt Felix Erausquin, der zwischen 1932 und 1949 als jeweils neunmaliger Landesmeister im Diskuswerfen und Kugelstoßen daheim nahezu unbezwingbar war, widmete sich in späteren Jahren dem Speerwurf. 1956 ersann er eine neue Technik, mit der er trotz seiner schon 48 Jahre erneut Landesmeister wurde. Der Mann von der Biskaya hielt dabei den Speer während des Anlaufs hinter seinem Rücken und schleuderte ihn mit einer dem Diskuswurf ähnlichen Bewegung durch seine mit Öl eingeschmierte Hand. Die damals üblichen Spitzenweiten um 85 Meter übertraf Erausquin weit, teilweise schleuderte er seinen Speer über die 100-Meter-Marke.
Weil bei dieser Variante die Flugrichtung des Speers nicht sonderlich gut kontrolliert werden konnte und die Ästhetik der Disziplin stark litt, nahm sich der internationale Verband die „Spanische Missgeburt“– so nannte der finnische Kontrahent Matti Järvinen die neue Technik – vor. Ergebnis: Die Drehung wurde verboten und alle erzielten Rekorde wurden aberkannt.
Es dauerte dann bis zum Jahr 1984, als der Potsdamer Uwe Hohn im Berliner Friedrich-LudwigJahn-Sportpark mit 104,80 Meter einen unglaublichen Weltrekord mit der alten Technik aufstellte. Nun empfand der Weltverband, dass die Stadien zu klein wären, verlagerte das Speergewicht mehr in die Spitze und verhinderte so bis heute einen weiteren Wurf über 100 Meter.
Herausragendes Beispiel für bahnbrechende Tüftler bleibt in der Leichtathletik aber die Erfindung von Richard Douglas Fosbury, den alle Welt nur Dick nannte. Mitte der 60er-Jahre riet Trainer Bernie Wagner dem scheinbar talentlosen Hochspringer zum Aufhören. Als der Jugendliche ihm seine Kreation – mit dem Rücken zur Latte abspringen und auch so in die Gruben segeln – vorführte, tippte sich Wagner an die Stirn und schickte Fosbury zum Zirkus. Der 1947 geborene Dickkopf jedoch feilte an seiner Erfindung, führte sie erstmals bei der Olympia-Ausscheidung der US-Athleten vor und gewann kurz danach mit einer Höhe von 2,24 Meter Olympia-Gold 1968 in Mexico-City. Heute ist seine Technik Standard, und der Name Flop hat sich eingebürgert.
Die überragende Erfindung Fosburys hat im gegenwärtigen Sport nur zwei Parallelen – im Winter. Der Schwede Jan Boklöv war ein ebenso mäßiger Skispringer wie Fosbury als Leichtathlet. Doch er war begeistert bei der Sache. Deshalb wollte der damals 19-Jährige beim Sommer-Training in Falun nach falschem Absprung einen Sturz vermeiden, pfiff auf die obligatorische Parallelhaltung der Bretter und riss die Ski zum V auseinander. Der Sturz war vermieden – und Boklöv segelte viele Meter weiter als seine Kameraden.
Allerdings bemängelten die Punktrichter auf Anordnung des Weltverbandes die fehlende Parallel-Stellung und zogen dem Schweden beständig viele Punkte ab. Da er aber mit zunehmender Zeit immer sicherer wurde und durch das größere Luftpolster unter dem Körper viel weiter sprang, glich das diese Strafen aus. Boklöv gewann fünf Weltcupspringen und im Winter 1988/89 sogar die Gesamtwertung.
Mit einem ähnlichen Husarenstück in Sachen Erfindung setzte sich Pauli Siitonen ein Denkmal. Der finnische Polizist hatte sich bei einem Langstrecken-Wettbewerb verwachst und brachte seine Ski einfach nicht ins Gleiten. Deshalb stieß er sich kraftvoll mit einem der Bretter ab und setzte auf die Hilfe der Oberarme. Der 1938 geborene Mann aus Simpele verlor dadurch keine Zeit – im Gegenteil.
Die Technik fand Freunde. Allerdings nicht in Skandinavien, weil die Nordländer durch die unkonventionelle Art die Ästhetik vermissten. Der Weltverband allerdings fand hier eine Lösung: Man schrieb die Wettbewerbe entweder in der klassischen Variante mit einer hübsch anzusehenden Spur aus oder im Skating, wie der Siitonen-Schritt heute meist genannt wird.
Thomas Burke gilt als Erfinder des heute üblichen Tiefstarts Boklöv riss die Ski zu einem V auseinander – und segelte weiter als alle anderen