Leben unter hohen Himmeln
Die Berliner Filmemacherin Grit Lemke ist mit ihrem Dokumentarfilm „Gundermann Revier“in Brandenburg auf Tour. Darin geht es nicht nur um den Baggerfahrer und Liedermacher.
Die Kamera schwenkt über die riesigen Abraumhalden des Tagebaus Welzow-süd, fährt langsam darüber hinweg und hält am Horizont fest. Ein Bild, das so oder ähnlich viele kennen, es hat sich eingeprägt als ein Symbol für die Zerstörung der Natur; zugleich steht es aber auch für eine sichere Energieversorgung, für feste Arbeitsplätze und für gutes Geld, das in der Lausitz noch immer verdient wird. „Gundermann Revier“heißt der Dokumentarfilm von Grit Lemke, der sich mit diesem Konflikt auf eigene Weise befasst.
Noch ein weiterer Film über Gerhard Gundermann? Hatten Drehbuchautorin Laila Stieler und Regisseur Andreas Dresen mit dem Spielfilm „Gundermann“nicht alles gesagt über den Liedermacher und Baggerfahrer, der Widersprüche in sich vereinte wie kein Zweiter? Der Mitglied der Partei wurde und wegen seiner großen Fresse raus flog, der für die Stasi berichtete und ebenso bespitzelt wurde?
Es gehe ihr um mehr, sagt Lemke, die Gundermann gut kannte. Wie er verbrachte auch sie Kindheit und Jugend in Hoyerswerda. „Hier entstand damals etwas Neues“, sagt Lemke. Mitte der 50er-jahre wurde der Grundstein gelegt für die Neustadt Hoyerswerda – Wohnund Schlafstätte für die Menschen, die hier arbeiten würden in den Kohlegruben, Tagebauen und im Gaskombinat Schwarze Pumpe. Zuerst kamen die Abenteurer, die aufbauten, verwegene Burschen darunter, oftmals mit zwielichtigen Biografien. Sie zogen irgendwann weiter. Dann kamen die, die blieben. Junge Leute aus allen Teilen des Landes, die Aufbaugeneration, die es auch in den Großbetrieben und Kombinaten in Eisenhüttenstadt, Schwedt und anderswo gab.
Jahre später beschreibt die Schriftstellerin Brigitte Reimann in ihrem Buch „Franziska Linkerhand“diese Jahre in Hoyerswerda als eine Stadt der Hoffnung, aber auch des Halbfertigen, der schlammigen Wege und des improvisierten Alltags. „Wir wohnten in der Platte, hatten die gleichen Sachen an, wir kannten uns alle“, sagt Lemke. „Und wenn die Eltern auf Arbeit länger machen mussten, haben wir bei den Nachbarn gebadet und zu Abend eine Stulle gekriegt.“
„Hoywoy, dir sind wir treu / du blasse Blume auf Sand“, wird Gundermann später singen. Die Brigade Feuerstein, Gundermanns erste Gruppe, habe die Stadt verändert. Denn nach den Plattenbauten kamen die Kunst, die Klubs, die Zirkel und Kultureinrichtungen. Eine breite Szene, in der gesungen und diskutiert wurde. Eine Generation wuchs heran, die ihre eigene Sicht auf die Dinge anmeldete. Brigade Feuerstein war vielleicht die erste Kommune des Ostens. Man musizierte gemeinsam, erzog die Kinder, verbrachte die Wochenenden zusammen und ging auf Tournee, auch in Länder Westeuropas. Zurückgekommen sind sie alle.
Grit Lemke lässt in ihrem Film Weggefährten zu Wort kommen, Leute, die Gundermann kannten, sie erzählen darüber, wie es war mit ihm zu leben und zu arbeiten. Lemke baut diese Geschichte um Gundermann herum, seine Lehrerin und seine Frau Conny kommen ebenso zu Wort wie die Silly-musiker Uwe Hassbecker und Ritchie Barton. Hugo Dietrich, Gefährte von frühen Tagen an, ist noch immer mit der Gitarre unterwegs – unter anderem mit der Sängerin Carmen Orlet und einem Liederprogramm über Brandenburgs frühere Ministerin Regine Hildebrandt.
Gundermann habe viele Probleme von heute damals schon gesehen, erinnert sich Grit Lemke. In seiner schnodderigen Sprache sah er den aktuellen, globalen Konflikt zwischen Arm und Reich klar vor sich. Sie werden kommen und wollen an unsere Töpfe, sagte Gundermann. Besser sei es, wir sorgen dafür, dass ihre Töpfe voll sind, war seine Schlussfolgerung. Gundermann konnte Leute begeistern und zugleich vor den Kopf stoßen, er hatte diese Filter nicht, die jeder einschaltet, um zu prüfen, ob das Gesagte gefällt oder gar kränkt. Er war einfach geradeaus, weiß Lemke. Auch in der Trennung von den Feuersteinen. Er suchte sich neue Musiker und wurde mit der Band Seilschaft zum Profi – mit seinem „Zweitjob“als Baggerfahrer im Schichtbetrieb.
In diesen Wochen ist Grit Lemke mit ihrem Film unterwegs – in Cottbus, Berlin,
Gießen, Halle, Leipzig, Triest und anderswo. Auch für den Grimme-preis ist ihr Film nominiert. Fast überall gibt es Diskussionen, wie kürzlich in Fürstenwalde, wo auch gefragt wurde, ob die DDR nicht zu unkritisch dargestellt sei. Das Thema Gundermann und Stasi spielt in dem Film natürlich eine Rolle, aber nicht die herausragende. Grit Lemke, bald mehr als 30 Jahre im Filmgeschäft tätig, ärgert es, dass der Osten seit Jahren auf die Stasi reduziert wird. Das werde den Leuten nicht gerecht. Es habe kaum einen Spielfilm über den Osten gegeben, in dem das Thema nicht eine Rolle gespielt hätte. Wenn etwa 0,5 Prozent der Bevölkerung mit der Stasi kooperiert hat, wäre es dann auch nicht wichtig, über das Leben der 99,5 Prozent Filme zu machen?
Mit ihrer Erzähltechnik erinnert sie an die Filme von Volker Koepp. Kennengelernt hatte sie ihn in Leipzig, wo Lemke Kulturwissenschaft, Ethnologie und Literatur studierte. Später promoviert sie an der Humboldt-universität in Europäischer Ethnologie. Bis 2017 ist sie Programmchefin des Dokfilm-festivals in Leipzig – und trifft erneut auf Koepp.
In fünf Jahrzehnten hat Volker Koepp mehr als 60 Dokumentarfilme gedreht. Er erzählt in langsamen Bildern, was heute eher ungewöhnlich ist. Die Kamera vermeidet jegliche Hektik. Immer wieder nähert sich Koepp vergessenen Landstrichen, dem Raum zwischen dem brandenburgischen Wittstock, dem früheren
Ostpreußen bis ins Kaliningrader Gebiet, dem Memelland, der Kurischen Nehrung oder der Bukowina, wo der viel beachtete Film „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“entstand.
Dieser Kamerastil, dem auch Lemke und ihr Kameramann Uwe Mann nahestehen, ist ungewöhnlich. Die Kamera geht nicht weg, wenn die Menschen eine Pause benötigen oder nach der Antwort suchen. Koepp lässt ihnen die Zeit. Es entstehen „langsame“Bilder zu bedächtigen Sätzen. Manchmal schwenkt die Kamera
auf ein einsames Haus, auf dessen Dach Störche ein Nest bauen. „Unter hohen Himmeln. Das Universum Volker Koepp“nennt Lemke ihr Buch, das Ende vergangenen Jahres erschienen ist.
In Cottbus beim jährlichen Filmfestival leitet Grit Lemke die Sektion „Heimat Domownja Domizna“. Selbst aus einer Familie mit sorbischen Wurzeln kommend, sichtet und fördert sie Filme dieses Volkes, deren Bevölkerung offiziell mit etwa 80 000 Menschen in der Oberund Niederlausitz angegeben wird. Hunderte Arbeiten sorbischer Autoren gebe es, zehn wurden bereits digitalisiert.
Wie verbindet sich das alles? Filmemachen, Bücherschreiben, Juryarbeit und Privatleben? Und wie viel Optimismus bleibt in pessimistischen Zeiten? Gundermann konnte den Konflikt mit wenigen Zeilen ausdrücken: „Ach meine Grube Brigitta ist pleite / und die letzte Schicht lang schon verkauft / und mein Bagger der stirbt in der Heide / und das Erdbeben hört endlich auf“.
Eine praktische Folge hat Lemkes Film bereits. Die Fürstenwalder beschlossen nach der Filmdiskussion, nach Hoyerswerdaer Vorbild einen Bürgerchor zu gründen.
Ach meine Grube Brigitta ist pleite und die letzte Schicht lang schon verkauft. Gerhard Gundermann, „Brigitta“
Grit Lemke: „Gundermann Revier“, zu sehen bei der Ökofilmtour Brandenburg, am 16.2. um 17 Uhr, Obenkino Cottbus, mit anschließendem Gespräch, Tel. 0355 380240; Literatur: „Unter hohen Himmeln. Das Universum Volker Koepp“, Bertz + Fischer, 320 Seiten, 25 Euro