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Ein verzweigtes Labyrinth aus Räumen
Haus der Materialisierung Neues aus altem Holz bauen, mit geretteten Lebensmitteln kochen: Initiativen laden ins „Zentrum für zukunftsfähige Ressourcennutzung“am Alexanderplatz zum Mitmachen ein.
Von außen wirkt das Haus der Statistik am Alexanderplatz mit seinen fensterlosen Fassaden nach wie vor verrammelt und verlassen. Wer Leben sucht, muss über Nebenstraßen in den Innenhof wandern. Auf dem einstigen Parkplatz, wo nach der Sanierung des seit zwölf Jahren leerstehenden Mammutkomplexes in ein paar Jahren eine Kita entstehen soll, wachsen Blumen und Gemüse aus mobilen Holzkisten. Eine alte Autoscooter-Anlage wurde als Open-Air-Location für eine Podiumsdiskussion umfunktioniert. Während Experten dort mit Gästen über „Zirkuläres Wirtschaften“diskutieren, kochen Studierende des Theologischen Studienzentrums Berlin gemeinsam mit Foodsharing Netzwerkern veganen Eintopf aus geretteten Lebensmitteln.
Es ist ein schöner Spätsommertag im September, und es wird die Eröffnung des „Hauses der Materialisierung“gefeiert. 18 Initiativen, die sich für Themen wie Müllvermeidung, Umweltschutz, nachhaltige Ernährung und die Wiederverwendung von Materialien engagieren, haben in den vergangenen Monaten das Erdgeschoss erobert. „Wir mussten erst einmal dafür sorgen, dass es überhaupt wieder eine funktionierende Infrastruktur gibt. Wenn es stark regnete, stand hier das Wasser bis zu den Knöcheln“, erzählt Gerard Roscoe vom foodsharing e. V., während er durch die Räume führt, deren Zwischendecken an vielen Stellen Löcher haben.
Die Gerüste, die sie teils stützen, werden nun als Regale für Holzlatten, Planen, Stoffe und Eisenstangen genutzt. Auch Folien, Farben und Kautschuk-Matten kann man im neuen „Gebrauchtmaterial-Markt“erwerben. Das meiste kommt aus Restbeständen, wurde schon einmal benutzt und von Firmen oder Privatleuten gespendet.
Restholz für kleines Geld
Dafür zahlt man höchstens die Hälfte des Neu-Preises, meist ist es noch weniger. Gerade bei sozialen Projekten lassen die ehrenamtlichen Helfer gerne auch mit sich handeln. „Wenn eine Schülerin Material für das Bühnenbild der Theatergruppe braucht, wird es billiger, als wenn sich ein Privatkunde die Terrasse verschönern will“, erklärt einer der jungen Mitarbeiter.
Die gebrauchten Dinge können auch gleich vor Ort in den öffentlichen Werkstätten für Metall, Holz, Schmuck, Recyling oder für den Lastenfahrradbau verarbeitet und wiederverwendet werden. Im neuen „Zentrum für zukunftsfähige Ressourcennutzung“gehe es nicht nur darum, das Material zu retten, sondern auch Wissen weiterzugeben, heißt es immer wieder. Was man alles mit gebrauchtem Holz, Metall, Kunststoff und so weiter anfangen kann, können Interessierte in kostenlosen Workshops lernen. „Gerne auch ohne handwerkliche Vorkenntnisse“, sagt Jutta Ziegler, die gerade in der Holzwerkstatt gemeinsam mit ein paar Frauen Bilderrahmen zimmert. Das Programm für die Öffentlichkeit soll dabei sukzessive immer weiter ausgeweitet werden. Im nächsten Jahr könne dann vielleicht auch der Hobby-Möbelbauer vorbeikommen, der seine alte Kommode reparieren will und dafür nur noch ein paar Spezialwerkzeuge und ein paar gute Ratschläge braucht, so Ziegler.
Bohrmaschinen und anderes Werkzeug gibt es auch jetzt schon im „Leihladen“als ökologische und klimafreundliche Alternative zu Überkonsum und Umweltbelastung. In den Regalen stehen auch schon einige Küchengeräte. Die Idee: Jeder bringt etwas mit, was er gerade nicht nutzt, und kann sich dafür wie in einer Bibliothek etwas ausleihen, was er nur kurzzeitig braucht. Zum Beispiel eine Leiter, einen Grill oder einen Wanderrucksack.
Das neue Haus der Materialisierung im ebenerdigen Teil des Komplexes, in das momentan 75 Personen gleichzeitig dürfen, wirkt ein bisschen wie ein weit verzweigtes Labyrinth aus Räumen. In einem basteln Mitglieder der „Freifunk“-Initiative Antennen für ein kostenloses WLan für alle. Neben Satellitenschüsseln liegen flugzeugartige
Modelle. „Das werden Drohnen für die Flüchtlingsrettung im Mittelmeer“, erklärt Philipp Borgers, von Hauptberuf Informatiker. Das Ziel sei, sie von den Schiffen an die vermuteten Unglücksstellen zu schicken.
Nebenan haben die Klima-Schützer von Extinction Rebellion eine kleine Werkstatt bezogen, in der sie Transparente und Plakate für ihre Umwelt-Demos fertigen. Ein paar Schritte weiter zerreißt Julia Buntzel alte Bettlaken in längliche Streifen. Aus ihnen werden an Spinnrädern neue Fäden gefertigt, die an einem großen Webstuhl wiederum zu einem bunten Teppich zusammenfügt werden. „Am Bahnhof Zoo wird ein neuer Versammlungsraum für Obdachlose eingerichtet“, erklärt die 28-jährige Studentin der Kunsthochschule Weißensee. Als sie von dem Projekt im Haus der Statistik erfuhr, habe sie sich sofort freiwillig gemeldet, erzählt die junge Frau.
Denn auch die Berliner Stadtmission erhält viele Kleiderspenden, die sich nicht mehr an Bedürftige weitergeben lassen. „Mit den Spenden übernehmen wir auch die Verantwortung für die Textilien und für deren Klimabilanz“, erklärt Ana Lichtwer.
Unterhosen aus alten Kleidern
In ihrem „Upcycling-Labor“im Haus der Materialisierung können sich Interessierte nun an Nähmaschinen setzen und unter anderem aus alten Jersey-Kleidern Unterhosen für Bedürftige fertigen. Dazu werden nebenan im „Vintage4Charity“Retro-Klamotten für einen guten Zweck verkauft. „Die vielen Initiativen hier sind ein guter Schmelztiegel für Materialforschung, für künstlerische Prozesse und für die Suche nach einer sozial und ökologisch gerechteren Gesellschaftsorganisation“, findet Lichtwer.
Dass das alles überhaupt im ehemaligen Sitz der DDR-Zentralverwaltung für Statistik möglich wurde, ist einer verrückten Kunstaktion zu verdanken. Die „Allianz bedrohter Berliner Atelierhäuser“(AbBA) brachte 2015 über Nacht ein großes Poster im Stile eines offiziellen Bauschilds an der Fassade an: „Hier entstehen für Berlin: Räume für Kunst, Kultur und Soziales“.
So trugen sie die Diskussion um die Zukunft der Immobilie in bester Innenstadtlage in die Öffentlichkeit. Soziale und kulturelle Einrichtungen, Verbände, Künstlerkollektive, Architekten, Stiftungen und gemeinnützige Vereine schlossen sich zur „ZUsammenKUNFT Berlin“zusammen, um gemeinsam mit den Anwohnern und der Stadtgesellschaft Ideen und ein Konzept zu entwickeln. 2018 wurde von Senat, Bezirk, der landeseigenen Immobiliengesellschaft BIM und der Genossenschaft die Vereinbarung unterschrieben, das Haus der Statistik auch im Sinne des Gemeinwohls zu entwickeln.
„Wir sind keine Zwischennutzer, sondern Pioniere, die auch nach der Sanierung hier bleiben werden“, stellt Erik Göngrich von der „Mitkunstzentrale“klar, der aus Recycling-Materialien skulpturale Gemeingüter designt. „Nicht Geld, Kapital und Wachstum sollen im Haus der Statistik die Macht übernehmen, sondern Solidarität, Gemeinschaftssinn und Demokratie.“
Haus der Materialisierung im Haus der Statistik, Karl-Marx-Allee 1, Zugang über Berolinastraße. Die regulären Öffnungszeiten für die Öffentlichkeit sind dienstags von 15 bis 19 Uhr und mittwochs von 16 bis 19 Uhr. Allerdings sind nicht immer für alle Projekte Ansprechpartner gleichzeitig da. Mehr Infos im Internet unter www.hausderstatistik.org
Um die Zukunft der Immobilie in bester Innenstadtlage wurde lange diskutiert.