Clandestí
Punk und Rock’n’Roll
Die wohl spannendste Neueröffnung des Jahres: Taller Gastronomic, also gastronomische Werkstatt, haben die jungen Betreiber ihr Restaurant im Untertitel genannt. Spannend nicht nur deshalb, weil es sich um ein auf Mallorca bislang einzigartiges Chefs-Table-Konzept handelt, sondern auch, weil ein Restaurant wie dieses kein Restaurant im klassischen Sinne ist. Wir fühlen uns meist überall sehr gut bedient und wirklich zu Gast, doch hier erreicht dieser Faktor ganz neue, uns bis dato so nicht bekannte Dimensionen. Das fängt damit an, dass es keine Tische im klassischen Sinn gibt, sondern eine riesige, etwa zehn Meter lange Bar, gleichzeitig Arbeitsfläche und Tisch, die den Mittelpunkt und die einzige Sitzmöglichkeit bildet. Kellner? Fehlanzeige! Das junge Paar Ariadna Salvador und Pau Navarro macht hier alles, aber wirklich alles allein. Pau hat zuvor bei Santi Taura, Marc Fosh, im mehrfach als bestes Restaurant der Welt gekürten Celler Can Roca in Girona und im jüngst mit einem Michelin-Stern ausgezeichneten Argos gekocht. Ariadna hat als Patissière gearbeitet. Bevor die beiden nun hier, etwas ab vom Schuss, ihr eigenes Restaurant eröffnet haben, probierten sie ihr Konzept als Popup-Restaurant schon höchst erfolgreich im Küchenaccessoire-Ge-
schäft Cocinaria aus und erkochten sich schnell so etwas wie eine kleine Fangemeinde. Auch bei unserem Testbesuch kurz nach der Eröffnung sind offensichtlich größtenteils Wiederholungstäter zugegen. Sie plaudern angeregt mit den Gastgebern, als wir den von dunklen Wänden und besagter riesiger weißer Bar dominierten Raum betreten. Aus den Lautsprechern tönen die Sex Pistols, denn eine große Leidenschaft der beiden ist neben dem Kochen der Rock’n’Roll, und einige Gerichte werden sogar gepaart mit bestimmten Songs serviert. Pau, mit Elvis-Tolle, riesigen Koteletten und zahlreichen Tattoos geschmückt, hackt ein paar offensichtlich frisch gesammelte Wildkräuter. Ariadna, die wegen ihrer roten Turmfrisur ein wenig an Amy Winehouse erinnert, zeigt uns die „Weinkarte“: zwei Regalbretter mit knapp zehn Flaschen, allesamt mit außergewöhnlich coolen Etiketten, und einigen Craft-Bieren. Wir entscheiden uns für den Albariño „La Marimorena“, der drei Monate im Holzfass reifte und durch spritzige Säure und saftige Frucht besticht (Flasche 25 Euro). Gekocht wird neu-mallorquin, und natürlich fängt das Mahl mit hausgebackenem, außen knusprigem und innen saftigem Xeixa-Brot mit bestem Olivenöl und Flor de Sal an. Dazu als Apéro neben einer in Wermut marinierten Olive ein Produkt, das wir noch nie probieren durften: Eine Seeanemone, im Bierteig ausgebacken, außen knusprig und innen – na ja: eine interessante, wenn auch etwas gewöhnungsbedürftige Konsistenz mit purem Meergeschmack. Bestimmt nicht jedermanns Sache. Dafür kulinarische Fortbildung, wenn man so will. Und diese kulinarische Fortbildung setzt sich fort, mit jedem Gang lernen wir Neues. Cocas, die mallorquinische Pizza-Version, haben wir schon so einige gegessen, aber die folgende hebt sich von allen bisherigen deutlich ab. Der frisch gebackene hauchdünne Boden wird vor unseren Augen mit den Wildkräutern belegt, darauf wird warm geräucherter Aal platziert und mit feinstem Olivenöl abgerundet. Die Kräuter, deren Namen wir uns leider nicht merken konnten, geben ein sehr spezielles Aroma, das fantastisch mit dem des Aals harmoniert. Ein Gang, der bei jedem Bissen besser schmeckt und aufs Neue überrascht. Noch während wir die Coca essen, befreit Pau einen vakuumierten Fisch, auch der eine einheimische, uns bis dato unbekannte Spezies, für die es offensichtlich nur einen mallorquini- schen Namen gibt, aus den Beuteln, in denen er genau fünf Minuten bei 55 Grad im Sousvide-Becken verbracht hat. Der fast noch rohe Fisch wird mit einer Art Beurre blanc überzogen, die aber sehr dominante Zitrusaromen aufweist – ein wohl uraltes Rezept von den Balearen, das laut Aussage des Chefs, der alles minutiös erklärt, sehr ähnlich auch in einer Region Südfrankreichs gekocht wird. Der Fisch ist außerdem mit ein paar Stangen wildem Spargel getoppt und von angenehm cremiger Konsistenz. Als Hauptgang gibt es im Green Egg zubereitete, butterzarte Rippchen vom schwarzen Schwein mit der besten Beilage, die wir seit Langem auf dem Teller hatten. Ein eher unappetitlich aussehender und trockener Brei aus Bohnen, nach einem uralten mallorquinischen, fast in Vergessenheit geratenem Rezept schmeckt zum Reinlegen gut und begleitet das aromatische Fleisch par excellence. Das Auge muss halt nicht immer mitessen! Nach so viel neuen, uns bis dato unbekannten Eindrücken wirkt die darauf folgende, exzellente Käseplatte fast wie eine Erholung. Und auch das Dessert, eine leichte Schokoladen-Mousse, die in Form von Schrauben und Muttern gegossen und golden angepinselt wurde, ist geschmacklich eher konventionell, aber sehr gut gemacht. Sie wird von einem sagenhaft cremigen Milcheis mit mallorquinischem Honig begleitet. Wir können es nach diesem Besuch kaum erwarten, auch mal abends hier vorbeizuschauen, um das große Menü („menú punk“, 55 Euro) zu probieren, welches aus doppelt so vielen Gängen besteht wie das mittägliche (menú folk, 30 Euro). Und sicherlich werden wir auch einen der Workshops besuchen, die von den beiden Inhabern, aber auch von Gastköchen und -Patissiers hier in Zukunft angeboten werden sollen. So ein Konzept hat in Palma noch gefehlt, und wir sind sicher, dass wir von den beiden äußerst sympathischen und begabten Köchen in Zukunft so einiges hören werden. coni