SÜDSEETRÄUME
FIFTY SHADES OF BLUE
Der Mythos lebt: Tahiti und seine Doppelinsel ist ein Ort der Sehnsucht und wirkt wie das Vorzimmer zum Paradies auf Erden. Französisch-Polynesien bietet Sonne, Sand und Südseeperlen – und nachts in der Hauptstadt Papeete auch Begegnungen mit dem „dritten Geschlecht“.
Heute schenkt einem das Leben nur die besten Erinnerungen. Weißer Sand, fein wie Mehl, pudert die feuchten Füße. Sattgrün leuchten die Flanken der heiligen Berge im Abendlicht – nur die Spitzen sind wie fast immer verhüllt, weil in den Wolken über dem erloschenen Vulkan die Götter wohnen. Tiefrot sagt die Sonne als Feuerball au revoir. Vom Meer weht eine kühlende Brise; salziger Abgesang auf den heißen Tag. Wellen rauschen, Palmblätter flüstern, und an der Bar klirren die Champagnergläser. Hier in der Lagune, am vielleicht schönsten Ende der Erde, werden Träume Realität.
Französisch-Polynesien: Das sind vier Millionen Quadratkilometer Meer, eine Fläche so groß wie ganz Westeuropa. 118 vulkanische Inseln und flache Atolle aus Korallenstein erheben sich aus der See: Auf der Karte sieht es so aus, als schwämmen ein paar Dutzend weit verstreute Kokosnüsse in der endlosen Weite des Pazifiks. Wer nach fast 24 Stunden auf diversen Flughäfen und in mal kleinen, mal großen Flugzeugen, nach einer mehr als 17000 Kilometer weiten Reise um den halben Erdball, endlich den ersten Blick auf Tahiti und seine Nachbarinseln wirft, trifft auf eine Landschaft, die auf den ersten Blick immer noch ein wenig so aussieht wie in den Gemälden der Seefahrer und europäischen Künstler, die hier einst eine neue Heimat fanden, jenseits der Enge Europas. In diesem Wunderland, wo sich heute Wirklichkeit und Traumbild überlagern wie an wohl keinem anderen Sehnsuchtsort auf der Welt, verwandelt sich das Wasser in den Lagunen tatsächlich von einem zarten Türkis am Strand in ein glasklares Smaragdgrün, über das die Kanus mit ihren Auslegern fliegen und neuerdings auch die Kitesurfer. Es dunkelt über Indigo-Töne ab zu einem satten Kobalt, bevor es jenseits des Riffs ins makellose Lapislazuli-Blau von Moana übergeht: So nennen sie hier den weiten Ozean. Man mag den Fototapeten-Mythos belächeln – doch wer das Farbenspiel erlebt, wird nicht mehr widersprechen, wenn jemand von den „Perlen des Pazifiks“schwärmt und davon, sich im Vorzimmer des Paradieses auf Erden zu befinden.
Oder zumindest auf Zauberinseln, auf denen sich – simsalabim – auf einen Schlag alle Urlaubssehnsüchte erfüllen. Ewiger Sommer. Tropen-Grün. Gleißend weiße Strände. Bungalows auf Stelzen im Wasser, erfunden von den „Bali Hai Boys“auf Raiatea. Duftende Tiare-Blüten in glänzendem schwarzen Haar, die angeblich Botschaften verkünden, die nur Eingeweihte verstehen: Trägt man die Blume rechts, ist man noch zu haben; trägt man sie links, ist man schon vergeben. Und trägt man sie links, aber verkehrt herum, signalisiert man Lust auf Abenteuer. Oh là là: Auf Tahiti ist der Südsee-Mythos anscheinend Realität. „Die glücklichen Bewohner eines unbeachteten Paradieses in Ozeanien kennen vom Leben nichts anderes als seine Süße. Für sie heißt Leben Singen und Lieben“, schrieb Paul Gauguin an einen Kollegen in Dänemark. Unbeachtet und unberührt, wie der Maler meinte, war Polynesien Ende des 19. Jahrhunderts aber nicht mehr – erst hatten Matrosen mit eingeschleppten Krankheiten die Zahl der Ureinwohner auf ein Minimum reduziert, dann kamen Missionare, um der legendär freizügigen Kultur einen Riegel vorschieben und die „edlen Wilden“zu bekehren. Doch inzwischen pflegt man auf den Inseln wieder viele Maori-Traditionen der Vergangenheit – und lässt Besucher daran teilhaben.
„Keine Angst. Die tun dir nichts. Wirklich nicht“, sagt Patrick Tairua. Er, Sohn des letzten Häuptlings des Dörfchens Anau, zeigt einem auf einer Motu, dem privaten Inselchen seiner Familie, wie man aus Palmwedeln schnell einen Teller flechtet, ohne viel Werkzeug eine Kokosnuss öffnet, und im Erdofen Ferkel und Fisch gart. Patrick kann stundenlang melancholische Lieder singen und sich selbst auf der Ukulele begleiten, während sein Auslegerboot durch die glasklare Lagune von Bora Bora pflügt, in der man so viele bunte Tropenfische sieht wie sonst nur in der BBC-Dokumentationen. Doch nun steht man mit ihm im Wasser, umgeben von
einem Dutzend jener Tiere, von denen einst ein Exemplar das Leben von Steve Irwin beendete, dem australischen „Crocodile Hunter“. Doch die Stachelrochen von Französisch-Polynesien sind wohl schon sehr lange an Menschen gewöhnt. Sie schmiegen sich an unsere Beine, stupsen an unsere Bauchmuskeln, scharwenzeln um uns herum. Ihre Haut ist weich wie Samt.
Die von Patrick Tairua dagegen ist gegerbt, von Jahrzehnten in der Sonne, und verziert von den Nadeln der Tattoo-Meister. Die Gefährten von Kapitän Cook brachten die Technik des Tätowierens einst nach Europa, auch die Meuterer der Bounty ließen sich bei ihrem Aufenthalt auf Tahiti verzieren. Der Anker auf dem Bizeps wurde Seemannsmode, doch in Polynesien blieb man den alten Motiven treu. „Die Linien, Kreise und Symbole auf meinem linken Oberschenkel erzählen die Geschichte meiner Mutter und die ihrer Ahnen, die Bilder auf dem rechten Oberschenkel die Legenden meiner väterlichen Seite “, sagt Patrick Tairua. Und was hat es mit dem langen Streifen entlang der Wirbelsäule auf sich, für den der Mann fünf Stunden lang Schmerzen aushalten musste? Das Tattoo schützt, gibt er zu verstehen, vor Gefahr und Unglück. Doch sein Blick zeigt, dass man jetzt nicht weiter fragen sollte – die Details sind wohl tabu. Noch ein polynesisches Wort, das es bis ins ferne Europa geschafft hat.
Tabus gab es in Tahiti früher viele. Doch in Sachen Sexualität war man offener als im angeblich „zivilisierten“Teil der Welt. So gab und gibt es hier nicht nur Mann und Frau, sondern auch das „dritte Geschlecht“: Mahus, also feminine Männer, die sich wie Frauen kleiden und in klassischen Frauenberufen arbeiten – früher als Haushaltshilfen in den königlichen Familien, heute im Nagelstudio, als Kellner und Tanzlehrer. „Die Kirche hat lange versucht, diese Tradition zu bekämpfen“, sagt Roger, ein Mahu, der in Papeete lebt. „Das ist nicht gelungen.“ Mahus sind ein Teil der polynesischen Gesellschaft. Rae Raes – das sind Männer, die einen Schritt weiter gehen und sich mit Hormonen und Operationen in Frauen verwandeln – müssen darum noch kämpfen. „Wir sind toleriert, nicht akzeptiert“, sagt Ambre, die als Bedienung im Restaurant La Terrasse arbeitet. „Meine Mutter hat immer gesagt: Ich habe einen Jungen auf die Welt gebracht, kein Mädchen. Dann hat sie mir die Haare abgeschnitten – das war für mich die schlimmste Strafe. Mit 18 bin ich dann zu Hause weg und kann jetzt endlich so leben, wie ich will.“Die meisten Rae Raes finden keinen Job und finanzieren ihre Transformation durch Prostitution. „Ich habe das nie gemacht, sondern ganz klassisch mein Geld verdient. Doch ich habe Glück: Mein Chef akzeptiert mich so, wie ich bin“, sagt Ambre, die in ihrem eleganten Kleid wirkt wie eine Grande Dame. Auch im Markt von Papeete kann man auf Rae Raes treffen, die einem Beruf nachgehen – so wie Tehei Li-Mick, die geeiste Kokosnüsse und Souvenirs verkauft. „Meine große Passion ist das Mischen von Duftölen“, sagt sie – es gibt Essenzen aus Tiare-Blüten, Vanilleschoten und Ylang-Ylang. Derart exotisch duftend ziehen die Königinnen der Nacht am Wochenende durch die Bars von Papeete – und stehlen dabei manch „echter“Frau die Show. Da passt es gut, dass der Weltumsegler Louis Antoine de Bougainville das Eiland „Otaheite“, vor dem sein Schiff ankerte, einst auf den Namen Neu-Kythera taufte – nach jener Insel, vor der die Liebesgöttin Aphrodite dem Meeresschaum entstiegen war...
Tahiti ist ein Traumziel, und wer die umliegenden Atolle ansteuert, fühlt sich als Entdecker im Paradies. Versteckt in den Lagunen des Tuamotu-Archipels und der Gambier-Inseln wachsen die Juwelen der Meere: Perlen, wie Robert Wan sie in seinem Büro in Papeete gerade vor sich ausbreitet, wie Mosaikteilchen eines Regenbogens. Hier die Tahitian Gold mit ihrem ockerfarbenen Schimmer, dort einige wie Pfauenfedern blitzende Peacocks, eine seltene himmelblaue Sky, rote Cherrys, dunkel leuchtende violette Perlen und blitzende silberne. Der alte Mann greift mit beiden Händen in die Pracht wie ein kleiner Junge in einen Murmelhaufen. „Perlen“, sinniert Robert Wan, „sind schon bei der Geburt perfekt. Man muss ihretwegen kein Gestein sprengen, keinen Schotter sieben und keinen Stollen ins Gestein treiben. Man muss sie nicht schleifen, um sie in etwas Schönes zu verwandeln. Man muss nur warten.“
Robert Wan, inzwischen 85 Jahre alt, hat das Warten perfektioniert. Mal dauert es zwei Jahre, mal vier, mal acht, bis er weiß, ob es sich gelohnt hat. Er herrscht über ein unsichtbares Volk: Millionen von Austern schenken ihm Millionen von Meerschönheiten. Der größte Perlenproduzent der Südsee besitzt das Atoll Marutea Sud, wo im planktonreichen Wasser die buntesten und größten Perlen Französisch-Polynesiens heranwachsen, ausgebrütet von Austern mit schwarzen Lippen, die ihm den in ihrem Inneren schlummernden Schmuck schenken.
Marutea Sud liegt zu abgelegen, um die Insel besichtigen zu können. Wer nach seiner persönlichen Glücksperle tauchen möchte, kann bei Joachim Dariel auf dem Atoll Fakarava vorbeischauen. Mit nur 8000 Austern im Wasser ist die Zucht für den Wahl-Polynesier ein Nebenerwerb. „Für 30 Euro kannst du dir eine Auster aussuchen und öffnen – die Perle gehört dann dir, egal, wie wertvoll sie ist“, erklärt er das Prinzip seiner „Perlenlotterie“. Ein Gewinn ist einem also sicher. So schnorchelt man hinaus, um sich eine von Neptuns schillernden Murmeln zu angeln. Noch ein Südsee-Traum, der in Erfüllung geht.