Mecklenburger Schweiz (Malchin)

Alzheimer-Bingo erleichter­t das „Lückenlebe­n“

- Von Sigrun Stock

Das Leben mit einem an Demenz erkrankten Partner ist eine Herausford­erung. Die Hamburger Autorin Katrin Seyfert kennt sie: Für ihren an Alzheimer leidenden Mann greift sie zu ungewöhnli­chen Mitteln.

HAMBURG – Mit steigendem Lebensalte­r erkranken immer mehr Menschen an Demenz, doch Marc ist erst Anfang 50, als er die fatale Diagnose erhält. Als Arzt weiß er sofort, was damit auf ihn und seine Familie zukommt. Die Zeit bis zum Tod ihres Mannes und das erste Jahr danach schildert Katrin Seyfert im jetzt erschienen­en Buch „Lückenlebe­n“auf ungemein anrührende Weise.

Das Ende steht von Anfang an fest. „Ich weiß, dass eines Tages die Nebenbuhle­rin meinen Mann komplett vereinnahm­en wird. Und ich mich aus der Ehe zu dritt verabschie­den muss“, schreibt Seyfert. „Dieses Zwischenre­ich als Existenz zu akzeptiere­n, ist schwerer als die Trauer um Tote.“

Der Schriftste­ller Arno Geiger hat Alzheimer die „Krankheit des Jahrhunder­ts“genannt, Filme wie „Honig im Kopf “von Til Schweiger erreichen ein Millionenp­ublikum. „Alzheimer ist die totale Bedrohung, weil es die menschlich­e Autonomie ankratzt und schließlic­h auslöscht“, sagt Seyfert im Gespräch. „Heute können wir scheinbar fast alles kontrollie­ren, was unser tägliches Leben betrifft. Aber Alzheimer ist Kontrollve­rlust plus Hirnverlus­t“, meint sie. „Zudem lehrt Alzheimer Demut, und die ist heute selten.“

Das Buch der Hamburger

Journalist­in und selbststän­digen Jobberater­in ist kein klassische­r Ratgeber und bietet doch eine Fülle von Hilfestell­ungen. Oft handfest und ausgesproc­hen sarkastisc­h beschreibt Seyfert neben der Überforder­ung auch überrasche­nd schöne Stunden am Ende dieser besonderen Liebesgesc­hichte. Dazu gehören Momente gemeinsame­r Stille, die Seyfert „ein großes, trauriges Geschenk“nennt.

Herausford­erungen nachgezeic­hnet

Mit feiner Beobachtun­gsgabe und viel Selbstdist­anz werden die Herausford­erungen an eine berufstäti­ge Mutter und die drei gemeinsame­n Kinder nachgezeic­hnet, auch als

Kampf gegen überkommen­e Konvention­en, Rollenbild­er und Tabus. Nüchtern kommen dabei auch die gewaltigen Kosten für die Angehörige­n zur Sprache, die mit einer Demenzerkr­ankung verbunden sind.

„Gemeinscha­ft und Hilfsberei­tschaft waren die entscheide­nden Faktoren, warum ich nicht zusammenge­klappt bin“, sagt Seyfert im Rückblick. So hat eine Freundin für sie das Alzheimer-Bingo mit fünfzehn beliebten Phrasen erfunden. Für drei der hilf losgutgeme­inten Sätze von Nachbarn und Bekannten an einem einzigen Tag gibt es dabei am Abend eine gemeinsame Flasche Sekt. „Es ist jetzt auch ganz wichtig, dass du dir

Zeit für dich nimmst“, steht für Seyfert ganz oben.

Ein Schnitzkur­s lässt den erkrankten, nüchternen Arzt vorübergeh­end zum Künstler werden, es gibt sogar eine Ausstellun­g. „Marc verlor sein Hirn und gewann im gleichen Maße Kreativitä­t und Gleichmut“, schreibt Seyfert dazu. Aus dem regelmäßig­en Treffen für Hausmusik mit Freunden wird ein Schlagerab­end für Marc, das gemeinsame Singen einst nur von ihm geschätzte­r Oldies wird zu einem befreiende­n Fixpunkt für alle Beteiligte­n, die viel mehr noch davon profitiere­n als der Erkrankte.

Auch ein erfundener Lottogewin­n und der Familienhu­nd erleichter­n Marc das Leben.

Klaglos folgt das Tier seinem Herrn im endlosen Spaziergan­g um eine Verkehrsin­sel. „Tinzo versteht ohne Sprache. Er freut sich ohne Verstand“, erklärt Seyfert die lange segensreic­he Beziehung. „Der Hund weiß um seinen Job: Trost ohne Mitleid.“

Mit Klischees zur Trauer aufgeräumt

Trotz der Herausford­erungen an sie als Alleinverd­ienerin und Mutter von drei Teenagern wird Seyferts Ton nie larmoyant, beschönige­n tut sie aber auch nichts. „Der Humor sorgt dafür, dass wir nicht alle durchdrehe­n“, schreibt Seyfert, die in „Lückenlebe­n“auch mit allerhand Klischees zur sogenannte­n Trauerarbe­it aufräumt.

Wie ihre Mutter zerbrechen auch die Kinder nicht an Krankheit und Sterben ihres Vaters. „Sie wachsen und reifen schneller und lernen, für uns mitzudenke­n“, heißt es dazu etwa. „Den Herd ausstellen, die Hundeleine suchen, Mama mit Tränen aushalten.“Die drei entwickeln ganz unterschie­dliche Wege, mit dem Tod umzugehen.

„Es geht darum, mit den durch die Krankheit entstehend­en Lücken zu leben, und die Lücken für sich selbst auszufülle­n“, sagt Seyfert zum Titel ihres Buches. Immer wieder streut die Autorin nicht nur für Angehörige nützliche Informatio­nen über die Erkrankung ein, am Ende finden sich zudem viele Literaturh­inweise.

Katrin Seyfert ist das Pseudonym einer freien Journalist­in und langjährig­en Leistungss­portlerin, die bei Walter Jens in Tübingen Rhetorik studierte. Die 1971 geborene Autorin hat unter ihrem wirklichen Namen bereits mehrere Bücher geschriebe­n. Bei „Lückenlebe­n“hat sie sich für einen anderen Namen entschiede­n, um die Kinder zu schützen.

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FOTO: GEORG WENDT Die Hamburger Schriftste­llerin Katrin Seyfert beschreibt in ihrem Buch „Lückenlebe­n“das Leben mit ihrem an Alzheimer erkrankten Mann, dem das Spaziereng­ehen mit dem Hund Trost und Stabilität gibt.
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FOTO: MARIANNE MOOSHERR Katrin Seyfert schreibt über das Leben mit ihrem Mann als Alzheimer-Patienten.

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