Freunde fürs Leben
Medizin Als sein bester Kumpel schwer krank wird, trifft der Allgäuer Karl-Heinz Pimiskern eine folgenschwere Entscheidung. Er spendet ihm eine Niere. Ein Glücksfall für Uwe Böhm. Und eine Einladung zum Nachdenken: Würde man selbst so weit gehen?
Kempten Wer im entscheidenden Moment aufhört, Freund zu sein, ist es nie gewesen.
Was sich als netter Spruch liest, hat für Karl-Heinz Pimiskern eine tiefere, eine wahrhaftige Bedeutung. Anders wäre es nicht zu erklären, dass der 55-jährige Allgäuer für seinen besten Kumpel ein Organ opferte. Die Sorge um den Empfänger hörte selbst dann nicht auf, als die Transplantation aus medizinischer Sicht längst gelungen war. „Es ist nicht schwierig, eine Niere zu spenden“, sagt Pimiskern. „Schwieriger ist es, sie anzunehmen.“
Und damit wären wir bei Uwe Böhm, 52, aus Kempten. Den verheirateten Vater von vier Buben hat die neue Niere nach langjähriger Krankheitsgeschichte zurück ins Leben katapultiert. Gerade weil sie von seinem besten Freund und Bergkameraden stammt. „Ich empfinde es als Wunder, dass ich wieder da bin und sogar Sport treiben kann. Ich nehme es dankbar an“, sagt der Empfänger, bei dem vor knapp zehn Jahren eine chronische Nierenschwäche diagnostiziert wurde.
Vor der Transplantation war er von der Blutwäsche (Dialyse) abhängig, die ihn dreimal pro Woche für Stunden ans Bett fesselte. Nun fühlt er sich wieder frei und fit. Am Wochenende, ein gutes Jahr nach der OP, bestritt der frühere Hobbyläufer nach vielen Jahren Zwangspause seinen ersten Wettkampf: Beim Iller-Trail meisterte er 26 Kilometer von Immenstadt nach Kempten. „Es war ein unglaubliches Erlebnis. Und eines, das Mut macht: „Ich will zeigen, dass man nach einer Transplantation ein Leben ohne Einschränkung führen kann“, sagte er nach seiner Zielankunft in 2:35 Stunden.
Sein Freund Karl-Heinz Pimiskern war, wie der Finisher selbst, zu Tränen gerührt. Die beiden Kum- pels können das Glück kaum fassen. Ihre Geschichte ist das Gegenstück zu all den Skandalen, die rund um das Thema Organspende immer wieder die Schlagzeilen beherrschen.
In Deutschland werden jedes Jahr etwa 2000 Nieren transplantiert. Nur knapp ein Drittel davon stammen nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) von „Lebendspendern“. Im überwiegenden Teil der Fälle sind dies Angehörige. Bei Uwe Böhm boten sich mehrere potenzielle Spender aus dem Familien- und Freundeskreis an. Er entschied sich schließlich, das wiederholte Angebot seines Freundes Karl-Heinz anzunehmen. Bei den Untersuchungen stellte sich heraus, dass dessen Niere überraschenderweise alle notwendigen Übereinstimmungsmerkmale erfüllte. Von der Blutgruppe bis zum Volumen des Organs.
„Auch wenn es komisch klingt: Mir war das immer klar. Und deshalb war für mich auch klar, dass ich das machen werde“, sagt Karl-Heinz Pimiskern, der stille Held, der mit seiner Frau und einem Hund in Kottern, einem früheren Arbeiterviertel von Kempten, lebt. Ursprünglich wollte er nicht, dass sein Name genannt wird. Das ehrt ihn. Andererseits lesen wir täglich und ganz selbstverständlich von mittelmäßigen Fußballern oder Schauspielern. Wer von ihnen würde auch nur auf die Idee kommen, einem Freund ein Organ zu spenden? Und überhaupt: Würde man es selbst tun?
Denn: Theoretisch käme jeder infrage, der zwei funktionsfähige Nieren hat.
Doch es gibt auch Gründe dagegen. Beispielsweise der in der Fach- literatur als „Fatigue-Syndrom“bekannte Erschöpfungszustand, der nach dem Eingriff sowohl Spender als auch Empfänger treffen kann. Körperlich und psychisch sei der Verlust oder Gewinn eines Organs hart zu verarbeiten, heißt es. Ob das Organ angenommen wird, entscheidet sich immer erst nach der Transplantation. Und: Auch ein gesunder Spender ist nicht vor Schicksalsschlägen gefeit. Davon zeugte vor einigen Jahren ein Fall aus München, der durch die Medien geisterte. Ein Ehemann hatte seiner bedürftigen Frau eine Niere gespendet. Jahre später quittierte seine verbleibende Niere den Dienst. Seitdem muss er selbst täglich zur Dialyse und kämpft ums Überleben.
Karl-Heinz Pimiskern hat von diesen Einzelfällen gehört. Sie hielten ihn nicht davon ab, das in seinen Augen einzig Richtige zu tun: eine Niere abzugeben. „Ich kenne Uwe seit über 30 Jahren. Er ist ein lebensfroher Mensch, der die Bewegung liebt. Genau das wollte ich erhalten“, sagt er.
Ohne diesen selbstlosen Einsatz hätte Uwe Böhm wohl nie mehr einen Wettkampf bestreiten oder hohe Gipfel erklimmen können. Dabei sind es die gemeinsamen Bergtouren, die in jungen Jahren aus zwei Solisten eine Einheit formen und den Grundstein für eine wunderbare Freundschaft legen.
„Als ich Uwe kennengelernt habe, fand ich ihn, ehrlich gesagt, ein bisschen arrogant“, erinnert sich Pimiskern schmunzelnd an die erste Begegnung Anfang der 1980er Jahre in einer Wohngemeinschaft in Kempten. Doch schnell ist klar: Da sind zwei, die sich ergänzen. Hier der in sich ruhende Schlosser Pimiskern, dort der eloquente Informatiker Böhm. Beide bereit fürs Abenteuer. Freundin hin oder her.
Die beiden erinnern sich genau, wie sie damals mit dem VW-Bus nach Südtirol fahren – und dabei das 26-teilige Musikstück Peer Gynt von Henrik Ibsen hören. Sie tanzen gemeinsam auf den Gipfeln. Sie teilen sich beim Joggen die Stöpsel ihres „Walkman“. Einer für beide. Beide für einen.
So ist es geblieben. Auch in den schwersten Stunden. Ausgerechnet bei einer Bergtour erleidet Uwe Böhm 2006 einen Schwächeanfall. Die Ärzte stellen eine sogenannte Niereninsuffizienz fest. Über die Jahre hinweg verschlechtert sich der Zustand. Bis Böhm ab 2012 zur Bauchfelldialyse und später zur Hämodialyse gezwungen ist. Ein Blutwäsche-Verfahren, bei dem er mehrmals pro Woche stundenlang an ein Gerät zur Entgiftung und Entwässerung angeschlossen wird. Obwohl er diese Einschränkung in seinem Leben klaglos hinnimmt, ist seinem Kumpel Karl-Heinz Pimiskern klar: „So kann es nicht weitergehen.“
Um Abhilfe zu schaffen, bietet er sich als Spender an. „Ich wusste sofort, meine rechte Niere passt für Uwe. Und genau so war es“, schildert Pimiskern schmunzelnd. Wenn er beim gemeinsamen Frühstück in seinem Garten davon erzählt, klingt alles beiläufig. So, als hätte er einem Grippekranken ein Taschentuch geschenkt – und keine Niere.
Schnell stellt sich heraus, dass alle medizinischen Voraussetzungen für eine Transplantation erfüllt sind. Doch auch die persönlichen Beweg- gründe spielen eine Rolle. Im Münchner Klinikum rechts der Isar werden Böhm und Pimiskern von einer Ethikkommission buchstäblich auf Herz und Nieren geprüft. Um beispielsweise finanzielle Motive auszuschließen, wollen eine Allgemeinmedizinerin, eine Psychologin und ein Jurist viele Details aus dem Leben der beiden wissen. Pimiskern schildert, wie er mitleidet, wenn er sich vorstellt, dass sein Freund an Maschinen angeschlossen ist. „Das passt nicht zu Uwe. Er ist doch ein Bewegungsmensch“, sagt er und erzählt von ihrem gemeinsamen Werdegang. Am Schluss, so erinnern sich die Freunde, erheben sich die Kommissionsmitglieder erfreut und stimmen der Transplantation zu. „Das war wie das Jawort bei
„Es ist nicht schwierig, eine Niere zu spenden. Schwieriger ist es, sie anzunehmen.“
Karl-Heinz Pimiskern „Ich empfinde es als Wunder, dass ich wieder da bin und sogar Sport treiben kann. Ich nehme das dankbar an.“
Uwe Böhm
einer Hochzeit“, sagen die beiden über den wegweisenden Moment.
Wenige Wochen später: Die Freunde liegen erschöpft in einem Zimmer im Klinikum. Karl-Heinz Pimiskern wurde soeben in einer zweistündigen Operation die rechte Niere entnommen und anschließend seinem langjährigen Kumpel Uwe eingesetzt. Eine zehn bis zwanzig Zentimeter lange Narbe wird jeden der beiden zeit ihres Lebens daran erinnern. Obwohl alles gut verlaufen ist, scheint sich in den Tagen nach der OP dennoch eine unsichtbare Mauer zwischen den Freunden aufzubauen. Das Kräfteverhältnis in ihrer Beziehung droht sich zu verschieben. Dieses Gefühl beschleicht jedenfalls Karl-Heinz Pimiskern.
Weil er es schwer aussprechen kann, schickt er seinem Bettnachbarn an jenem Mittag des 9. April 2014 eine SMS: „Hay Uwe, wir bleiben Freunde, wie es war. Ohne besonderen Status. HEINZI bleibt Heinzi, gell.“
Pimiskern will keine Sentimentalitäten und erst recht keine ewige Dankbarkeit. Er weiß, dass Uwe das Gleiche für ihn getan hätte. Sie sind schließlich Freunde.