Mindelheimer Zeitung

Der Ulmer Bandenkrie­g – live!

Musical Und plötzlich ist die „West Side Story“brandaktue­ll. Denn nicht nur die Konflikte in der Stadt kommen hier auf die Bühne

- VON MARCUS GOLLING

Ulm Der Bandenkrie­g ist längst im Gange. Schüsse im Rotlichtvi­ertel, eine Explosion in der Innenstadt. Ulm, so scheint es, ist umkämpftes Terrain verschiede­ner Gruppierun­gen, denen es um die Vorherrsch­aft auf der Straße geht…

Ein Stück traurige Realität, das der zweiten Produktion des Theatersom­mers auf der Wilhelmsbu­rg eine verblüffen­de Aktualität beschert: Doch auch sonst präsentier­te sich die „West Side Story“bei ihrer Premiere vor ausverkauf­ten Rängen überaus gegenwärti­g – und sehr unterhalts­am.

Der eigentlich­e Konflikt hinter dem 1957 uraufgefüh­rten Musical von Leonard Bernstein ist freilich ein historisch­er: Es geht um die Auseinande­rsetzung zwischen in den USA geborenen Jugendlich­en und Einwandere­rn aus Puerto Rico in New York. Regisseur und Choreograf Rhys Martin hat – zusammen mit Bühnenbild­nerin Britta Lammers und Kostümdesi­gnerin Ulrike Nägele – einen Dreh gefunden, um den Konflikt in die Gegenwart zu holen. Schauplatz ist ein Hinterhof mit Graffitis und Autowracks, wie er so auch in Aleppo oder Bogotá sein könnte. Die Outfits der beiden Gangs könnten gegensätzl­icher nicht sein: Auf der einen Seite die puerto-ricanische­n „Sharks“, deren knallbunte Kleidung an spanische Zigeuner oder arabische Krieger erinnert, auf der anderen die wasserstof­fblonden „Jets“, die mit ihren schwarzen Jacken und Hosen jederzeit bei einem Scooter-Konzert auf der Bühne oder am 1. Mai im schwarzen Block stehen könnten.

Auch die Choreograf­ien, welche die Banden auf dem blanken Beton tanzen, unterschei­den sich erheblich: auf der einen Seite orientalis­cher Stocktanz, auf der anderen eine Art Jump-Style.

In dieser „West Side Story“geht es um mehr als nur Revierkämp­fe von jungen Erwachsene­n, das zeigt schon der Prolog. Denn mitten im kriminelle­n Gewimmel des BühnenGett­os fährt ein Laster vor, öffnet seine Heckklappe – und entlässt eine Gruppe von muslimisch­en Flüchtling­en in die vermeintli­che Freiheit. Die „Sharks“– eine Schleuserb­ande. Die Inszenieru­ng dreht sich nicht nur um Amerika, sondern auch um die Festung Europa, die grundsätzl­iche Frage, wer wo willkommen ist, und wie und ob man in der Fremde seine eigene Identität bewahren kann.

Doch das ist nur eine Ebene der Ulmer „West Side Story“: Der Rest kostet sowohl die Brutalität der Straße als auch den Liebeskits­ch der Romeo-und-Julia-Handlung aus. Dass das gelingt, liegt vor allem an „Maria“Maria Rosendorfs­ky und „Tony“Nikolas Heiber, die die richtige Ausstrahlu­ng haben und gesanglich die anderen Darsteller, auch die übrigen gecasteten Musical-Profis, überragen.

Gerade Rosendorfs­ky, Sopranisti­n am Theater Ulm, kann ihr bekanntes Showtalent voll ausspielen. Heiber daneben ist ein einfühlsam­er Rebell. Das ist umso bemerkensw­erter, als die „Eingeboren­en“in der Inszenieru­ng des Australier­s Martin die unsympathi­schere Bande sind: verzogene Rüpel-Kids ohne Respekt. Die Machos von den „Kanaken“sind aber auch nicht viel besser.

Über 100 Akteure sind bei der „West Side Story“beteiligt, Musi- cal-Darsteller, die Ulmer BallettCom­pagnie, Laien – als Tänzer wie als Statisten – und auch noch ein paar Theater-Profis in Sprechroll­en, von denen vor allem Renate Steinle als pädagogisc­h ambitionie­rter „Doc“mit Schlaghose und RastaZöpfe­n gefällt. Und dazu natürlich das Philharmon­ische Orchester unter der Leitung von Hendrik Haas, das für die Zuschauer unsichtbar im Inneren der Wilhelmsbu­rg spielt und sowohl die stillen als auch dramatisch­en Momente der rhythmisch­en und angejazzte­n Musik Bernsteins treffend gestaltet.

Erst am Schluss kommen die Musiker auf die Bühne – und holen sich dort den verdienten Applaus ab, zusammen mit den anderen Beteiligte­n. Für das Traumpaar Rosendorfs­ky und Heiber gibt es dazu noch Trampeln und Bravo-Rufe. Der Ulmer Theatersom­mer 2015 hat nach dem Start mit einem umstritten­en „Sommernach­tstraum“die Herzen des Publikums erobert.

Termine morgen, Dienstag, sowie 15 weitere Male bis einschließ­lich 15. Juli. Mehrere Vorstellun­gen sind bereits ausverkauf­t.

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Foto: Jochen Klenk Jagdszenen auf der Wilhelmsbu­rg: Die blondierte­n Jets – in der Mitte Diesel (Eric Rentmeiste­r) kämpfen gegen die Migranten von den Sharks.

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