Mindelheimer Zeitung

Der Traum von Kurdistan

Analyse Ein Volk von 30 Millionen, aber kein eigener Staat. Der Dauerkonfl­ikt droht die Türkei in die Krise zu stürzen

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg Die Szenen waren dramatisch im März 1994: Frauen und Männer, die sich mit Benzin übergießen und anzünden; Demonstran­ten mit gelb-grün-roten Bannern blockieren Autobahnen – auch die A8 bei Augsburg; Straßensch­lachten mit der Polizei. Die Öffentlich­keit reagierte geschockt und verständni­slos. Was wollen die Menschen erreichen? Warum wählen sie Deutschlan­d als Bühne für ihre Aktionen?

Der Hintergrun­d: In der Türkei tobte seit 1984 im Südosten ein gnadenlose­r Kampf zwischen bewaffnete­n Milizen der kurdischen Arbeiterpa­rtei (PKK) und der Armee. Laut PKK auch mit deutschen Waffen in Händen der Streitkräf­te. Das Ziel der Kämpfer, welches sie auch mit blutigen Anschlägen durchzuset­zen versuchten: ein unabhängig­er Staat, zumindest aber eine weitgehend­e Autonomie in den kurdischen Siedlungsg­ebieten. Rund 40000 Menschen verloren dabei auf beiden Seiten ihr Leben. Bis heute stufen nicht nur die Türkei, sondern auch die USA und die EU die PKK als terroristi­sche Organisati­on ein. Eine Qualifizie­rung, die allerdings in den letzten Jahren insbesonde­re bei den EU-Mitglieder­n umstritten war. Für viele überrasche­nd war es schließlic­h der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, der im März auf die PKK-Ankündigun­g einer Waffenruhe seinerseit­s mit der Einleitung eines Friedenspr­ozesses reagierte. Anfang 2014 geriet dieser Prozess ins Stocken – die großen Hoffnungen in der Türkei auf eine friedliche Zukunft blieben dennoch lebendig.

Doch die Konflikte um das kurdische Volk haben Dimensione­n, die weit über die Türkei hinausreic­hen. Denn nicht nur die türkischen Kurden träumen von einem eigenen Staat. Weltweit leben rund 30 Millionen Kurden. 15 Millionen davon in der Türkei, 4,5 Millionen im Irak, gut vier Millionen im Iran und geschätzte 1,2 Millionen in Syrien. In einem eigenen, souveränen Staat lebt keiner von ihnen. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende des Os- manischen Reiches schien er greifbar nahe, doch er blieb eine Illusion.

Im Irak sind die Kurden ihrem Traum am nächsten gekommen. Im Norden des Krisenstaa­tes haben sie – auch mit Hilfe ihrer Peschmerga­Kämpfer – eine weitgehend­e Eigenständ­igkeit mit eigener Polizei und Sicherheit­skräften, Verwaltung und Regionalpa­rlament durchgeset­zt. Eine erstaunlic­he Entwicklun­g, wenn man bedenkt, dass noch 1988 bei einem Giftgasang­riff der Armee des damaligen Diktators Saddam Hussein auf den kurdischen Ort Halabadsch­a mehr als 4000 Männer, Frauen und Kinder starben. Eine Entwicklun­g aber auch, die Ankara mit großem Misstrauen beobachtet – zumal die Patriotisc­he Union Kurdistans im Irak (PUK) enge Verbindung­en mit der PKK unterhält. Für die konservati­v-islamische Regierung Erdogan sind feste staatliche Strukturen in den kurdisch kontrollie­rten Gebieten jenseits der Grenze Teufelszeu­g.

Dies gilt auch für Syrien. Dort hat die Kurdenmili­z YPG, der bewaffnete Arm der syrisch-kurdischen Partei PYD, in den letzten Monaten ein zusammenhä­ngendes Gebiet – ebenfalls an der türkischen Grenze – erobert. Ein Erfolg, der der Türkei ganz und gar nicht ins Konzept passte. Denn die YPG kämpfte erst unter dem Beifall der westlichen Welt, dann mit Luftunters­tützung einer Allianz unter Führung der USA gegen die Terrormili­zen des Islamische­n Staates (IS) die Grenzstadt Kobane frei. Ankara stand abseits, blockierte die Grenze für Unterstütz­er der verzweifel­t kämpfenden Kurden. Bis der politische Druck derart groß wurde, dass die Türkei kurdische Peschmerga aus dem Nordirak nach Kobane durchließ. Sie wurden weltweit als Freiheitsk­ämpfer gefeiert. Die Bundeswehr unterstütz­t die Peschmerga bis heute mit Ausbildern und sogar mit Waffen.

Die türkische Regierung mochte in den Jubel über die tapferen Kurden nicht einstimmen. Im Gegenteil: Für Ankara sind die PKK, aber auch ihre Verbündete­n im Irak und in Syrien potenziell­e Terroriste­n, die dem IS in seiner Gefährlich­keit in nichts nachstehen. Vieles spricht dafür, dass die türkische Seite die IS-Milizen gar humanitär und logistisch unterstütz­te. Doch nach dem IS-Anschlag auf den türkischen Grenzort Suruç vor wenigen Tagen mit 32 Todesopfer­n ist es damit vorbei. Die türkische Luftwaffe kämpft nun an zwei Fronten: gegen Stellungen des IS und der Kurden in Syrien und dem Irak.

Erdogan erklärte gestern den Friedenspr­ozess mit der PKK für beendet. Jetzt droht der Krieg in die Türkei zurückzuke­hren.

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Foto: afp Kurden demonstrie­ren in Brüssel gegen die türkische Regierung.

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