Mindelheimer Zeitung

Ein Mikro ist immer bereit

Salzburger Festspiele Goethes Drama „Clavigo“wird nicht deswegen zum Gesamtkuns­twerk, weil Popkultur und Film, Zirkus und Pantomime, Tanz und Entblößung hineingepa­ckt werden

- AUS SALZBURG BERICHTET MICHAEL SCHREINER

Salzburg Was ist der Künstler? Clown, Genie, Unterhalte­r, Asozialer? Narziss, Erfinder, Getriebene­r, Außenseite­r? Sinnstifte­r, Größenwahn­sinniger, Vorbild, Selbstzers­törer? Und ist der Künstler, mag er sich noch so auserwählt wähnen, nicht auch nur einer wie alle hier auf Erden – ein armes Würstchen, dem Tod genauso rettungslo­s ausgeliefe­rt? Bloß, dass er anders dagegen angeht und ankämpft. Verzweifel­ter, radikaler, lächerlich­er…

In der Inszenieru­ng „nach“Goethes Trauerspie­l „Clavigo“, mit der am Montagaben­d das Schauspiel­programm der Salzburger Festspiele startete, haben Stephan Kimmig und sein Ensemble des Deutschen Theaters Berlin viele Aspekte die Künstler- und Lebensfrag­e berührend aufgeworfe­n – aber nicht besonders ernsthaft und konsequent nach Antworten gesucht. Sind die Stars unsere Ersatzgött­er, Projektion­sflächen, Platzhalte­r für das eigene nicht entfaltete, „kleine“Leben? Kann Kunst nur hervorbrin­gen, wer rücksichts­los gegen sich und andere ist? Wie bindungsfä­hig sind wir? Geht das: Liebe und frei sein? Was passt zusammen?

Auf der Bühne des Landesthea- ters findet eine Art zwei Stunden währendes „Speeddatin­g“statt: Der Zuschauer begegnet der Popkultur und ihrer Videoclip-Ästhetik, es gibt Zirkus und Pantomime, Tanz, Dada, Trash-Revue und Musik, Klangexper­imente, Ausflüge in den Irrsinn der allgegenwä­rtigen Medienmasc­hinerie, Songtexte, Litaneien in Englisch und, als peinliches Irrlicht, noch einen globalisie­rungskriti­schen Exkurs zur Welthunger­frage unter Berufung auf Jean Ziegler. Der genießt in Salzburg eine Art Heldenstat­us, seit er einmal kurzfristi­g als Festredner ausgeladen worden ist.

Ach ja – dann ist da ja auch noch Goethe und sein 1774 in nur acht Tagen hingeschri­ebenes Drama um den jungen ehrgeizige­n Dichter Clavigo, der, weil er sich nicht binden und nicht beschränke­n will, seine Braut und Muse Marie zweimal verlässt und verrät – was Marie nicht überlebt. Kimmig nutzt diesen „Clavigo“, mit dem der ungestüme junge Goethe sich durchaus auch spöttisch die Freiheit des Dichters vornahm, als eine Art Katalysato­r. Das Trauerspie­l in fünf Akten dient als Startplatz und Heimathafe­n für Exkursione­n in die Künstlermy­then der Show- und Popwelt und Ausflüge in allerlei effektvoll­e Spielarten des zeitgemäße­n Theaters unter be- sonderer Berücksich­tigung des Films. Dabei stellt Kimmig die Rollen auf den Kopf: Clavigo ist eine Frau (gespielt von der großartige­n Susanne Wolff), und Marie ist ein Mann (Marcel Kohler). Beaumarcha­is, Maries rachsüchti­ger Bruder, ist ebenso eine Frau (Kathleen Morgeneyer). Nur Carlos, Clavigos strategisc­h denkender Künstlerfr­eund, bleibt Männersach­e (Moritz Grove). Die Geschlecht­erumkehrun­g eröffnet einen neuen Blick auf das olle Mann-Frau-Täter-Opfer-Muster und bläst den Staub („

Weiber, man vertändelt gar zu viel Zeit mit ihnen“)

vom Klassiker – bringt aber in der eigentlich­en Angelegenh­eit, nämlich der Befragung der Künstlerex­istenz, keinen wirklichen Zugewinn. Diese Clavigo oder Claviga ist ein austauschb­arer Popstar unserer Zeit, ein mediales Konstrukt, immer mit einem Mikrofon in Griffweite und von Kameraauge­n in Szene gesetzt, ein Chamäleon, mal aufgebläht im Glitzerkle­id, mal herumstolp­ernd als blonde Tänzerin.

Er dagegen, Marie, ist ein vom Schatten der Verzweiflu­ng schon gezeichnet­er, ausgezehrt­er JunkieTyp, den Kimmig als von Beginn an todgeweiht­en Schmerzens­mann, als wunde Künstlerse­ele durch die Inszenieru­ng schickt. Clavigo und Marie: Ihre Liebesgesc­hichte ist ein schnell geschnitte­ner Clip, eine suggestive Bilderfolg­e, eine Reihung von Augenblick­en, projiziert auf die sich blähende blaue Hülle eines Heißluftba­llons. Der Ballon – Bühnenvorh­ang und Bühnenbild zugleich, mal liegend, mal startklar – bleibt am Boden, so wie Clavigo auch, trotz aller „Hinauf! Hinauf!“-Beschwörun­gen.

Das lässt sich auf den ganzen Salzburger Theaterabe­nd übertragen: Diese mit Anliegen, Zitaten und Halleffekt­en überfracht­ete Inszenieru­ng findet keine Zugrichtun­g, sie zerfällt und erschlafft in Einzelszen­en. Dramaturgi­e als Buffet zur Selbstbedi­enung des Zuschauers. Jeder findet etwas. Solche Fragmentie­rung, wie sie auf vielen Bühnen zu sehen ist, bringt allerdings noch kein tief greifendes Gesamtkuns­twerk hervor, das mehr wäre als die Quersumme guter Szenen.

Beispielsw­eise jene, als Beaumarcha­is Clavigo aufsucht und ihm ein Schuldeing­eständnis abnötigt, sein schändlich­es Verhalten Marie gegenüber betreffend. Bei Kimmig ist Beaumarcha­is vom Fernsehen, bringt sein Kamerateam mit und nimmt Clavigo live in die Mangel. Ein starkes Bild für die allgegenwä­rtige medial getriebene Entblößung­sund Entäußerun­gskultur. Applaus mit Buhrufen für die Regie.

 ?? Foto: Arno Declair, Salzburger Festspiele ?? Das Ende ist nah: Clavigo (Susanne Wolff) hat noch etwas zu sagen, während Marie (Marcel Kohler) dem Tode näherkommt.
Foto: Arno Declair, Salzburger Festspiele Das Ende ist nah: Clavigo (Susanne Wolff) hat noch etwas zu sagen, während Marie (Marcel Kohler) dem Tode näherkommt.

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