Ein Mikro ist immer bereit
Salzburger Festspiele Goethes Drama „Clavigo“wird nicht deswegen zum Gesamtkunstwerk, weil Popkultur und Film, Zirkus und Pantomime, Tanz und Entblößung hineingepackt werden
Salzburg Was ist der Künstler? Clown, Genie, Unterhalter, Asozialer? Narziss, Erfinder, Getriebener, Außenseiter? Sinnstifter, Größenwahnsinniger, Vorbild, Selbstzerstörer? Und ist der Künstler, mag er sich noch so auserwählt wähnen, nicht auch nur einer wie alle hier auf Erden – ein armes Würstchen, dem Tod genauso rettungslos ausgeliefert? Bloß, dass er anders dagegen angeht und ankämpft. Verzweifelter, radikaler, lächerlicher…
In der Inszenierung „nach“Goethes Trauerspiel „Clavigo“, mit der am Montagabend das Schauspielprogramm der Salzburger Festspiele startete, haben Stephan Kimmig und sein Ensemble des Deutschen Theaters Berlin viele Aspekte die Künstler- und Lebensfrage berührend aufgeworfen – aber nicht besonders ernsthaft und konsequent nach Antworten gesucht. Sind die Stars unsere Ersatzgötter, Projektionsflächen, Platzhalter für das eigene nicht entfaltete, „kleine“Leben? Kann Kunst nur hervorbringen, wer rücksichtslos gegen sich und andere ist? Wie bindungsfähig sind wir? Geht das: Liebe und frei sein? Was passt zusammen?
Auf der Bühne des Landesthea- ters findet eine Art zwei Stunden währendes „Speeddating“statt: Der Zuschauer begegnet der Popkultur und ihrer Videoclip-Ästhetik, es gibt Zirkus und Pantomime, Tanz, Dada, Trash-Revue und Musik, Klangexperimente, Ausflüge in den Irrsinn der allgegenwärtigen Medienmaschinerie, Songtexte, Litaneien in Englisch und, als peinliches Irrlicht, noch einen globalisierungskritischen Exkurs zur Welthungerfrage unter Berufung auf Jean Ziegler. Der genießt in Salzburg eine Art Heldenstatus, seit er einmal kurzfristig als Festredner ausgeladen worden ist.
Ach ja – dann ist da ja auch noch Goethe und sein 1774 in nur acht Tagen hingeschriebenes Drama um den jungen ehrgeizigen Dichter Clavigo, der, weil er sich nicht binden und nicht beschränken will, seine Braut und Muse Marie zweimal verlässt und verrät – was Marie nicht überlebt. Kimmig nutzt diesen „Clavigo“, mit dem der ungestüme junge Goethe sich durchaus auch spöttisch die Freiheit des Dichters vornahm, als eine Art Katalysator. Das Trauerspiel in fünf Akten dient als Startplatz und Heimathafen für Exkursionen in die Künstlermythen der Show- und Popwelt und Ausflüge in allerlei effektvolle Spielarten des zeitgemäßen Theaters unter be- sonderer Berücksichtigung des Films. Dabei stellt Kimmig die Rollen auf den Kopf: Clavigo ist eine Frau (gespielt von der großartigen Susanne Wolff), und Marie ist ein Mann (Marcel Kohler). Beaumarchais, Maries rachsüchtiger Bruder, ist ebenso eine Frau (Kathleen Morgeneyer). Nur Carlos, Clavigos strategisch denkender Künstlerfreund, bleibt Männersache (Moritz Grove). Die Geschlechterumkehrung eröffnet einen neuen Blick auf das olle Mann-Frau-Täter-Opfer-Muster und bläst den Staub („
Weiber, man vertändelt gar zu viel Zeit mit ihnen“)
vom Klassiker – bringt aber in der eigentlichen Angelegenheit, nämlich der Befragung der Künstlerexistenz, keinen wirklichen Zugewinn. Diese Clavigo oder Claviga ist ein austauschbarer Popstar unserer Zeit, ein mediales Konstrukt, immer mit einem Mikrofon in Griffweite und von Kameraaugen in Szene gesetzt, ein Chamäleon, mal aufgebläht im Glitzerkleid, mal herumstolpernd als blonde Tänzerin.
Er dagegen, Marie, ist ein vom Schatten der Verzweiflung schon gezeichneter, ausgezehrter JunkieTyp, den Kimmig als von Beginn an todgeweihten Schmerzensmann, als wunde Künstlerseele durch die Inszenierung schickt. Clavigo und Marie: Ihre Liebesgeschichte ist ein schnell geschnittener Clip, eine suggestive Bilderfolge, eine Reihung von Augenblicken, projiziert auf die sich blähende blaue Hülle eines Heißluftballons. Der Ballon – Bühnenvorhang und Bühnenbild zugleich, mal liegend, mal startklar – bleibt am Boden, so wie Clavigo auch, trotz aller „Hinauf! Hinauf!“-Beschwörungen.
Das lässt sich auf den ganzen Salzburger Theaterabend übertragen: Diese mit Anliegen, Zitaten und Halleffekten überfrachtete Inszenierung findet keine Zugrichtung, sie zerfällt und erschlafft in Einzelszenen. Dramaturgie als Buffet zur Selbstbedienung des Zuschauers. Jeder findet etwas. Solche Fragmentierung, wie sie auf vielen Bühnen zu sehen ist, bringt allerdings noch kein tief greifendes Gesamtkunstwerk hervor, das mehr wäre als die Quersumme guter Szenen.
Beispielsweise jene, als Beaumarchais Clavigo aufsucht und ihm ein Schuldeingeständnis abnötigt, sein schändliches Verhalten Marie gegenüber betreffend. Bei Kimmig ist Beaumarchais vom Fernsehen, bringt sein Kamerateam mit und nimmt Clavigo live in die Mangel. Ein starkes Bild für die allgegenwärtige medial getriebene Entblößungsund Entäußerungskultur. Applaus mit Buhrufen für die Regie.