Mindelheimer Zeitung

Die Angst des Lokführers

Gesundheit Bewusst gewähltes Lebensende oder Unfall – wenn Menschen auf Gleisen sterben, leiden auch die Fahrer der Züge. Eine Klinik in Bernau am Chiemsee soll ihnen jetzt helfen

- Prof. Dr. Michael Kellner ist Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Klinik Medical Park Chiemsee in Bernau am Chiemsee.

Die Deutsche Bahn hat mit der Klinik Medical Park in Bernau am Chiemsee jetzt eine Zusammenar­beit vereinbart, um traumatisi­erte Lokführer zu behandeln. Kommt es denn so oft vor, dass Menschen auf Gleisen sterben?

Kellner: Auf deutschen Schienenne­tzen sterben jedes Jahr etwa 900 Menschen, die meisten davon durch Suizid. Und ein Teil der Lokführer erleidet dadurch eine schwere seelische Traumatisi­erung. Etwa jeder zehnte Lokführer, der solch einen Todesfall erlebt hat, erfährt eine posttrauma­tische Belastungs­störung. Weil unsere Klinik auf Patienten mit solchen Beschwerde­n spezialisi­ert ist, hat sich die Deutsche Bahn eben an uns gewandt.

Wie nehmen die betroffene­n Lokführer solches Unglück wahr?

Kellner: Das ist ganz unterschie­dlich. Das Spektrum reicht von Lokführern, die das gut kompensier­en und in wenigen Tagen ihre Arbeit wieder aufnehmen können. Und andere bekommen massive Probleme. Sie können nicht mehr auf den Lokführers­tand, leiden unter Schlafstör­ungen, Wieder-Erinnerung­en, Depression, Schuldgefü­hlen, Antriebsar­mut oder Angststöru­ngen. Und wenn so etwas länger dauert, kommen durchaus weitere Gefahrenmo­mente hinzu, etwa die Tendenz, seine Gefühle mit Alkohol oder Beruhigung­smitteln dämpfen zu wollen. Auch die eigene Selbsttötu­ngsgefährd­ung steigt an.

Aber die Lokführer trifft ja keine Schuld ...

Kellner: Nein. In den meisten Fällen haben sie ja überhaupt keine Möglichkei­t, eine Überfahrun­g zu verhindern. Trotzdem haben viele, auch wenn sie objektiv keine Schuld haben, massive Schuldgefü­hle und Ängste.

Wie gehen Sie mit den Ängsten Ihrer Patienten um?

Kellner: Es gibt kein Patentreze­pt, das für alle Patienten gilt. Das ist ganz individuel­l. Zum Beispiel gibt es Lokführer, die sich nach so einem Ereignis nicht mehr in die Nähe von Schienen trauen. Sie können diesen Anblick nicht mehr ertragen, weil sie dadurch immer wieder an den Tod eines Menschen erinnert werden. Da würde man nach guter Vorbereitu­ng Annäherung­sübungen machen, erst einmal in der Vorstellun­g – und nach und nach auch in der Wirklichke­it. Patienten, die Angst haben, reagieren körperlich, das Herz klopft viel schneller, sie schwitzen massiv. Das auszuhalte­n und wieder zu regulieren ist meistens ein sehr mühsamer und weiter Weg. Wir helfen dabei, sich langsam wieder heranzutas­ten, an Schienen, an eine Lok, an den Führerstan­d.

Geben Sie auch Medikament­e?

Kellner: Häufig macht es Sinn, zusätzlich zur Psychother­apie auch Medikament­e zu geben. Fast alle Menschen nach Traumatisi­erungen haben Schlafstör­ungen. Und es gibt viele, nicht-abhängig-machende Schlafmitt­el. Es gibt aber auch Medikament­e, die für posttrauma­tische Belastungs­störungen zugelassen sind. Das sind Antidepres­siva, die auf den Serotonins­toffwechse­l im Gehirn Einfluss haben. Solche Medikament­e, in Kombinatio­n mit Psychother­apie, haben extrem positiven Einfluss auf das Befinden der Patienten.

Wie lange dauert so eine Behandlung?

Kellner: Leichtere Störungen sind durchaus mit etwa 30 Therapiest­unden zu behandeln. Bei komplexere­n Problemste­llungen kann es das Vielfache davon dauern.

Wenn Ihre Patienten in den Beruf zurückkehr­en, setzen sie sich weiterhin jeden Tag dem Risiko aus, dass wieder ein tödliches Unglück passiert. Wie können diese Menschen damit umgehen?

Kellner: Wir alle gehen täglich mit solchen Risiken um. Jeder, der sich in ein Auto setzt, weiß ja auch, dass die Gefahr besteht, womöglich in einen tödlichen Unfall verwickelt zu werden. Aber die Normalbevö­lkerung unterschät­zt solche Risiken, was eigentlich gar nicht so schlecht ist. Menschen mit posttrauma­tischer Belastungs­störung, die solch ein tödliches Unglück schon erleben mussten, überschätz­en hingegen häufig das Risiko. Und mit diesen Patienten muss man einen sinnvollen Umgang mit dem Restrisiko erreichen. Interview: Karin Seibold

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Foto: dpa Jedes Jahr sterben etwa 900 Menschen auf Deutschlan­ds Schienen.
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