Lion Feuchtwanger – Erfolg (147) D
abei hatte sich seine Lage im Zuchthaus von Odelsberg nicht verbessert. Der Kaninchenmäulige war recht nervös geworden, schnupperte nach dem Wind, fand ihn nicht. Es gab jetzt so viele Veränderungen in den leitenden Stellen im Ministerium, er hatte nicht mehr viel Zeit, wie leicht konnte man auf ihn vergessen. Es war übel, in Gehaltsklasse XII zu enden. Der Hartl war mächtig, allein Verweser der Geschäfte im Ministerium war der Messerschmidt. Unklar, unklar. Die Wahrhaft Deutschen hatten eine starke Nebenregierung etabliert. Doch wer konnte wissen, wie das ausgeht. Die politischen Symptome wechselten, der Kaninchenmäulige mit ihnen.
Jede kleinste Ausdeutung dieser Symptome, jeden winzigsten Wechsel in den Anschauungen des Zuchthausdirektors Förtsch über die Kräfteverteilung in der Regierung bekam Martin Krüger an seinem Leibe zu spüren. Doch dieser ständige Kampf, dieses Hin und Her lähmte ihn nicht, belebte ihn. Man konnte ihm Bücher entziehen, Arbeit, aber nicht Gedanken, Einfälle. Konnte ihm sein immer größeres, weiteres Bild von dem Rebellen Goya nicht nehmen. Er lebte. Lebte im Zuchthaus heftiger, vielfältiger als vorher außerhalb der Mauern.
Jetzt, Johanna sehend, strahlte er auf. Sah ihr Gesicht sonngebräunt, straff vor Leben, kühner durch das kurze Haar, ihre Gestalt federnd durch Sport aller Art. Martin Krüger sah, daß Johanna schön war, und sagte es ihr. Sie aber errötete.
Er erzählte von seinem Streit mit Kaspar Pröckl, lächelnd, freundschaftlich. Erzählte, sich selber ironisierend, von den Wochen, da seine Post ihm die Welt ersetzte. Sicher wollte er Johanna nicht kränken, doch sie schämte sich brennend, daß sie in ihre Briefe nicht mehr Leben gelegt hatte. Er erzählte von seinen Mitgefangenen, von Leonhard Renkmaier, gutmütig, anschaulich, amüsant. Er erzählte stark, unpathetisch von dem Maler Francisco Goya. Gesundheitlich ging es ihm nicht schlecht. Er sah grau aus, doch nicht mehr schlaff. Das Herz freilich machte ihm Beschwerden. Er schilderte dieses gräßliche Vernichtungsgefühl. Es senkt sich grau um einen herum, zerdrückt einen, preßt, schnürt. Es ist, als drückten sich Maschinen ineinander und man ist in der Mitte, als versteinerte man von innen. Man kann ausatmen, aber nicht einatmen. Man taumelt herum, die Arme hochgeworfen, und japst nach Luft. Das dauert ewig. Kommt man dann wieder zu sich, und es ist jemand bei einem, dann greift man nach ihm, hält sich an ihm. Wundert sich, wenn man hört, der ganze Anfall habe nur Sekunden gedauert. Der andre hat nur gesehen, daß man grau im Gesicht wird, schwankt, vielleicht hinschlägt. Schlimmer noch ist es, wenn man sich, kommt man zu sich, allein findet. Wenn man Vernichtung geschmeckt hat und taucht wieder heraus, braucht man irgend etwas Lebendiges. Einmal hat es ihn in der Nacht gepackt: dann den Schritt des Wächters zu hören, war Erlösung. Er erzählte so, daß Johanna es selber spürte. Viermal insgesamt hat er solche Anfälle gehabt. Aber er jammerte nicht, bemitleidete sich nicht, war voll Zuversicht.
Später erzählte er, daß er jetzt die Vorstellung verloren habe von dem Bild „Josef und seine Brüder“. Das betrübte ihn. Photographien konnten ihm und das, was er früher darüber geschrieben hatte, das Bild nicht mehr vermitteln. Allein er hatte jetzt seinen Goya.
Zuletzt, kurz ehe die Sprechzeit ablief, sah Johanna, daß ihr Körper Martin sehr erregte. Seine Augen schleierten sich. Er setzte an zu sprechen; vermochte es nicht, schnaufte, schluckte, griff nach ihr. Sie wich nicht zurück, entzog sich ihm nicht. Doch sie bog krampfhaft den freien rechten Arm, die Finger, mußte sich zwingen, ihm nicht Widerwillen zu zeigen. Der Wärter saß stumpf dabei. Noch als sie ging, hatte sich Martin nicht beruhigt. Er stotterte mit Mühe belangloses Zeug.
Johanna, während der Rückfahrt, war tief verwirrt. Die letzten Minuten strich sie einfach durch. Sie wollte nicht den Mann Krüger im Gedächtnis behalten mit einem Gesicht, das kaum verschieden war von dem des Windigen. So tiefer erregte sie seine Veränderung, wie sie sich gezeigt hatte in der Stunde vorher.
Martin Krügers Befreiung war eine Angelegenheit gewesen, die zu Ende zu führen sie sich unumstößlich vorgenommen hatte. Doch niemals hatte sie sich vorgemacht, daß ihr dieser Vorsatz nicht manchmal, oft, lästig war. Der Mann Krüger hatte sein Gesicht verloren, war Sache geworden, Begriff. Jetzt auf einmal wieder stand er leibhaft in ihrer Welt, neu, unvergeßbar.
Unvergeßbar? Wo war der beschwingte einfallreiche Junge von früher? Wo der stille Mann, der graubraune? Sie spürte eine gute, kräftige Freundschaft für diesen neuen Martin, den starken Vorsatz, mit ihm eins zu sein.
Unvergeßbar? Plötzlich, wider ihren Willen, überfiel sie sein gieriges Gesicht der letzten Minuten, sie verwirrend, ihr selber Gier aufstachelnd. Wird es wohl nochmals kommen, daß sie mit ihm reist, mit ihm schläft? Sie vertrieb das Gesicht. Hörte durch das Rattern des Zuges die ruhigen, festen Worte, in denen seine Sicherheit war, in kurzer Zeit wieder unter freiem Himmel zu sein. Wie immer, sie hätte viel wärmer, kräftiger mit ihm reden sollen. Sie ärgerte sich über ihre Lauheit, ihre Schwerfälligkeit. Viel zuwenig hatte sie ihm sagen können, die Zeit war kurz, sie war langsam von Wort, hatte die rechten Sätze nicht zur Hand. Sie nahm sich vor, Martin ausführlich zu schreiben, so, daß ihre Worte nicht eintrocknen konnten, ehe sie ihn erreichten. Sie formte, während der Fahrt, an diesem Brief, so eingesponnen in sich, daß ihre Coupégenossen sie interessiert betrachteten.
In dieser Nacht, kurz vor dem Morgen, schreckte Johanna aus einem traumlosen Schlaf, als hätte sie jemand angerührt. Es war vollkommen dunkel im Zimmer, Johanna wußte nicht, wo sie war. Sie lag in absoluter Leere, im leeren Weltraum. Sie war auf einmal da, in einem Großen, Dunklen, Leeren, allein, ohne Namen, ohne Zusammenhang mit sich, ohne Voraussetzungen, ohne Vergangenheit, ohne Verantwortung. Hinausgeschleudert, neu, in eine unbekannte Welt. Sie wußte, daß es weitläufige Philosophien gab über Raum und Zeit. Aber die nützten ihr jetzt nichts. Sie war ganz auf sich selber gestellt, ganz frei. Sie fröstelte in ihrer Freiheit. Sie spürte mit Grauen den Ablauf ihres Lebens unterbrochen, wie wenn auf einmal ein Fluß in seiner Strömung stillsteht und auseinanderreißt. Sie fiel aus einer großen Verwunderung in eine ungeheure Angst. Auf einmal sollte sie, sie allein, ihr Dasein auf sich nehmen. Selber entscheiden, alles, allein.
Sie riß das Fenster auf. Unten lag, leer im künstlichen Licht, der Kai, rauschte der Fluß. Gierig in die Lungen pumpte sie sich die kühle Luft, die schon nach Morgen roch.
Die Larvenzeit war aus, ihr Leben neu in ihre Hand gegeben. Das Vergangene war nicht.