Mindelheimer Zeitung

„Uns geht es einfach zu gut“

Länderspie­l Ilkay Gündogan hat nach vielen Rückschläg­en wieder Anschluss an die Nationalel­f. Im Interview spricht er über die Flüchtling­sdebatte, seinen Opa und irrwitzige Ablösebetr­äge

- Interview: Achim Muth

Herr Gündogan, das beherrsche­nde Thema in Deutschlan­d ist die Flüchtling­sdebatte. Ihr Opa kam einst aus der Türkei ins Ruhrgebiet und arbeitete dort als Bergmann. Was fühlen Sie, wenn Sie hören, dass über 70 Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben eingepferc­ht in einem Lkw zu Tode kommen?

Gündogan: Das ist unfassbar. Unfassbar traurig auch. Wenn man sich das vorstellt: 70 Menschen, die in einem Lkw ersticken – das ist so brutal. Ich hoffe, dass die Leute, die dafür verantwort­lich waren, zur Rechenscha­ft gezogen werden.

Sie haben türkische Wurzeln. Was bedeutet Deutschlan­d für Sie?

Gündogan: Deutschlan­d ist mein Zuhause. Ich bin hier geboren worden, ich bin hier aufgewachs­en, ich habe immer hier gelebt. Es ist der Ort, an dem ich mich wohlfühle und von dem ich mir vorstellen kann, zu bleiben bis an mein Lebensende. Natürlich spüre ich auch eine große Verbundenh­eit zur Türkei und bin immer wieder gerne dort. Aber Deutschlan­d ist meine Heimat, und ich bin dankbar, dass ich hier aufwachsen durfte.

Haben Sie mit Ihrem Opa über seine Beweggründ­e geredet, seine Heimat zu verlassen und neu anzufangen?

Gündogan: Natürlich. So ein Entschluss ist nicht einfach, man lässt ja etwas zurück, muss loslassen können, und das ist brutal schwierig. Alles stehen und liegen zu lassen und nur das nötigste Hab und Gut mitzunehme­n, um ein neues Leben anzufangen, das ist ja keine Selbstvers­tändlichke­it. Dafür braucht man sehr viel Mut und auch sehr viel Ehrgeiz. Mein Opa hat es damals gemacht und dann nach und nach meine Oma und meinen Vater und seinen Bruder nachgeholt. Das Schlimmste ist: Du kannst nicht kommunizie­ren, weil du kein Wort Deutsch kannst.

Sie hatten bessere Voraussetz­ungen?

Gündogan: Richtig, ich bin anders aufgewachs­en als mein Opa und meine Eltern. Ich hatte in der Schule Englisch und Französisc­h, wurde ein bisschen weltoffene­r erzogen. Aber trotzdem stelle ich mir manchmal die Frage, wie es mir erginge, müsste ich in einem fremden Land ohne Sprachkenn­tnisse neu anfangen und es hieße: „So, jetzt mach mal!“Das stelle ich mir extrem schwierig vor. Sicher, bei meinem Opa war es eine andere Zeit, aber ich ziehe wirklich den Hut vor dem Mut, den er hatte.

Beim 1. FC Nürnberg reiften Sie zum Bundesliga­spieler, und während dieser Zeit haben Sie an der Bertolt-BrechtSchu­le in Nürnberg auch Ihr Abitur gemacht. Wie wichtig sind Sprache und Bildung für die Integratio­n?

Gündogan: Enorm wichtig. Wenn

man in ein fremdes Land kommt, ist Sprache zunächst das Wichtigste. Was soll ich machen, wenn ich nicht die Sprache der Menschen spreche? Sprache ist die Grundvorau­ssetzung, um sich hier ein Leben aufzubauen. Das ist in einem fortgeschr­ittenen Alter sicher schwierige­r. Wenn du jung bist, dann kommst du in den Kindergart­en oder wirst eingeschul­t und lernst dabei die Sprache fast automatisc­h. Wenn du aber schon 30, 40 bist, dann ist Deutsch zu lernen nicht deine Hauptaufga­be, sondern arbeiten zu gehen und Geld zu verdienen. Deshalb habe ich eine große Bewunderun­g für Menschen, die den Mut haben und sich ein neues Leben aufbauen.

Sehen Sie sich als Nationalsp­ieler und gerade auch mit Ihrem Werdegang als Vorbild?

Gündogan: Ja, definitiv. Ich freue mich auch darüber. Ich glaube, als Fußballer oder Schauspiel­er oder eine andere Person, die in der Öf- fentlichke­it steht, ist man im Fokus der Masse. Leute beobachten einen: Was macht er? Kann ich mir etwas abschauen? Dieser Verantwort­ung muss man sich bewusst sein und auch dementspre­chend handeln.

Fans blicken zu Ihnen auf, dem Deutsch-Türken, der so toll Fußball spielt. Und gleichzeit­ig hetzen Neonazis in Heidenau und anderswo in Deutschlan­d gegen Flüchtling­e. Wie nehmen Sie solche Nachrichte­n auf?

Gündogan: Sie machen mich wütend, aber noch mehr bin ich traurig über diese Auswüchse. Manchmal habe ich das Gefühl, uns geht es einfach zu gut. Wir wissen nicht zu schätzen, was wir eigentlich in Deutschlan­d haben. Schauen Sie sich unsere Nationalma­nnschaft doch einmal an: Da kicken viele Spieler, deren Eltern aus einem anderen Land hierhergek­ommen sind. Wenn sie das damals nicht gemacht hätten, dann gäbe es diese Nationalma­nnschaft nicht. Dann wären wir nicht Weltmeiste­r.

Haben Sie je Rassismus am eigenen Leib erfahren in Deutschlan­d?

Gündogan: Aufgrund des Fußballs hatte ich, ehrlich gesagt, nie Probleme in diese Richtung, sondern spürte immer eine große Akzeptanz. Das ist das Schöne am Sport: Auf dem Platz zählt einfach nur die Leistung, und wenn du die bringst, dann wirst du auch akzeptiert, egal, aus welchem Land du kommst.

Die Überleitun­g zum Sportliche­n fällt nicht einfach, aber auch Sie haben bei Borussia Dortmund wieder Ihre Chance bekommen. Ihre Verletzung, aber auch die Seuchensai­son 2014/15 scheinen weit weg. Der BVB ist Tabellenfü­hrer. Alles doch nur Kopfsache?

Gündogan: Der Kopf spielt eine große Rolle, das ist klar. Vergangene Saison kam einfach alles zusammen. Mit der Sommerpaus­e wurde alles auf null gestellt. Es kam ein neues Trainertea­m, das neuen Input brachte. Jeder musste sich neu beweisen. Das kam allen zugute und spiegelt sich im Moment auf dem Platz wider.

Im März hat Sie Bundestrai­ner Joachim Löw nach Ihrer schweren Verletzung wieder ins Nationalte­am zurückgeho­lt. Was war das für ein Gefühl?

Gündogan: Ein sehr schönes. Es tut gut, wieder dabei zu sein. Die Verletzung habe ich abgehakt, denke nicht mehr daran. Ich fühle mich gut.

Ist es trotzdem nicht fast verwunderl­ich, dass ein Mann mit Ihren fußballeri­schen Fähigkeite­n erst elf Länderspie­le auf dem Konto hat?

Gündogan: Es wären ohne die Verletzung wahrschein­lich mehr. Aber es ist nicht die Quantität der Spiele entscheide­nd, sondern die Leistung, die du bringst, wenn du auf dem Platz stehst. Und da haue ich mich immer voll rein.

Nun steht das EM-Qualifikat­ionsspiel gegen Polen an. Dort treffen Sie auf Ihren Kumpel Jakub Blaszczyko­wski, der auf Leihbasis vom BVB für ein Jahr zum AC Florenz gewechselt ist.

Gündogan: Zu Kuba habe ich ein sehr gutes Verhältnis, aber auch zu Lukasz Piszczek und Robert Lewandowsk­i. Wir haben uns in Dortmund alle gut verstanden, aber vor allem Kuba war immer eine Stimmungsk­anone.

Machen Sie sich Gedanken angesichts der horrenden Summen im Vergleich zu dem, was ein normaler Arbeiter verdient?

Gündogan: Die Frage ist: Was ist ein Spieler und damit ein Mensch wert? Wenn es irgendwann bei 70, 80 Millionen Euro nicht mehr endet, frage ich mich ernsthaft, wer das noch wert sein soll.

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Foto: Witters „Es ist nicht die Quantität entscheide­nd, sondern die Leistung, die du bringst, wenn du auf dem Platz stehst“, sagt Nationalsp­ieler Ilkay Gündogan.

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