Mindelheimer Zeitung

Mutter macht Rock ’n’ Roll

Ricki Meryl Streep zeigt wieder einmal ihre ganze Wandlungsf­ähigkeit. Diesmal ist sie die Frontfrau einer Band und wird von ihrer Vergangenh­eit als brave Hausfrau eingeholt

- VON MARTIN SCHWICKERT

Meryl Streep ist eine der größten Verwandlun­gskünstler­innen des Kinos. Ihre Meistersch­aft zeigt sich darin, dass man ihre Figuren auch in den abwegigste­n Outfits schon innerhalb weniger Filmminute­n ernst nimmt. Ob als Fashion-Queen in wechselnde­r Designer-Trikotage („Der Teufel trägt Prada“), ob mit okkulter Haarfestig­er-Frisur in der Rolle Margaret Thatchers („Die eiserne Lady“), als herunterge­kommene, krebskrank­e Mutterfuri­e („Im August in Osage County“) oder mit langen Fingernäge­ln als furchterre­gende Hexe („Into the Woods“) – auf geradezu organische Weise verschmilz­t Streep mit dem oft exzentrisc­hen Äußeren ihrer Figuren und verleiht auch extremen Charaktere­n eine glaubwürdi­ge Selbstvers­tändlichke­it.

In Jonathan Demmes „Ricki“, in dem sie eine in die Jahre gekommene Rocksänger­in spielt, ist das nicht anders. Mit hochhackig­en Stiefelett­en, knallenger, schwarzer Lederjacke, dick aufgetrage­nem blauem Lidschatte­n und einer Frisur, die auf der rechten Seite an Bo Derek und auf der linken an Kim Wilde erinnert, stolziert sie durch ihr prekäres Musikerdas­ein. Das erste Album von „Ricki and the Flash“blieb das einzige und gehörte noch dem Vinyl-Zeitalter an. Heute spielt die Band in einer Provinz-Bar und verfügt über eine sehr übersichtl­iche, wenn auch treue Fangemeind­e, die selbst im weit fortgeschr­ittenen Alter noch recht gelenkig zu den Cover-Songs von Tom Petty und Bruce Springstee­n abhottet.

Aber dann kommt ein Anruf, der sie in ein ganz anderes Leben zurückholt. Vor vielen, vielen Jahren hieß Ricki nämlich noch Linda und lebte im Mittleren Westen als ordentlich­e Mittelstan­dsmutti – bis sie den arbeitssüc­htigen Mann mit den drei Kindern sitzen ließ und dem Ruf von Ruhm und Rock ’n’ Roll nach L.A. folgte. Die inzwischen erwachsene­n Kinder sind auf ihre Mutter nicht gut zu sprechen. Trotzdem ruft Ex-Mann Pete (Kevin Kline) sie zu Hilfe, als Tochter Julie (Maime Gummer) nach der Trennung von ihrem Ehemann einen Selbstmord­versuch unternimmt. Aber die möchte zunächst nichts von der Rabenmutte­r wissen, und auch das erste Familientr­effen nach langer Zeit endet im Desaster.

Wie schon in „Rachels Hochzeit“, in dem Anne Hathaway als drogensüch­tiges Enfant terrible die schwesterl­ichen Trauungsfe­ierlichkei­ten aufmischte, beweist Jonathan Demme in „Ricki“erneut sein Faible für familiäre Störenfrie­de. Wie eine Außerirdis­che wirkt Streeps Rocklady im gut situierten Wohlstands­ghetto, in dem ihr Ex-Mann sich eine neue Familienex­istenz aufgebaut hat. Aber so einfach macht es sich der Film nach einem Drehbuch von Oscarpreis­trägerin Diablo Cody („Juno“) nicht mit den Grenzziehu­ngen und Parteilich­keiten inner- halb des verwandtsc­haftlichen Mikrokosmo­s. Obwohl Ricki unbestritt­en die ganze Sympathie des Films gehört, werden die Narben und Verletzung­en, die ihr radikaler Bruch mit dem Establishm­ent bei Mann und Kindern hinterlass­en hat, deutlich sichtbar.

Jonathan Demmes Familiendr­ama wird dabei weder zum Schlachtfe­st noch zur Versöhnung­sorgie. In moderater Tonlage werden hier Rickis verdrängte Gewissensb­isse genauso verhandelt wie die ritualisie­rten Schuldzuwe­isungen der Kinder. Wenn Ricki auf der Bühne darüber räsoniert, dass ein Mann wie Mick Jagger, der sieben Kinder mit drei verschiede­nen Frauen hat, als Held verehrt und dagegen eine Frau wie sie zum Monster stilisiert wird, trifft sie den Nagel auf den Kopf und verweist darauf, dass Freiheit und Rock ‘n’ Roll für Frauen und Männer immer noch etwas unterschie­dliches bedeuten.

Dennoch entwickelt der Film mit seinen zehn Konzertsze­nen, in denen sich Streep als veritable Frontfrau beweist, ein gutes Gespür dafür, welche befreiende Wirkung die Rockmusik auf ihre Generation hatte. Die betagten Musiker auf der Bühne und die grauhaarig­en Fans, die zu ihren Klängen tanzen, haben von den ersten Gitarrenak­korden an ein Leuchten in den Augen und zeigen eine tiefe, emotionale Verbundenh­eit mit der Musik, die ihre gealterten Körper zu neuem Leben zu erwecken scheint. ****

Filmstart in Kaufbeuren, Kempten, Memmingen, Neu-Ulm, Nördlingen, Penzing

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Foto: Sony Pictures Gitarre statt Staubsauge­r: Ricki (Meryl Streep) hat sich entschiede­n.

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