Mindelheimer Zeitung

Literatur stellt andere Fragen

Interview Die Schriftste­llerin Jenny Erpenbeck erzählt, weshalb ihr neuer Roman von der Flüchtling­sproblemat­ik handelt

- Jenny Erpenbeck schreibt Prosa und Theaterstü­cke. Ihr Roman „Gehen, ging, gegangen“ist bei Knaus erschienen (325 S., 19,99 ¤).

Ihr neues Buch „Gehen, ging, gegangen“, in dem es um die Flüchtling­e am Berliner Oranienpla­tz geht, kann man geradezu als Punktlandu­ng bezeichnen: Es kommt just in dem Moment heraus, in dem das Flüchtling­sthema hohe Wellen schlägt. Wie kommentier­en Sie die aktuelle Situation?

Erpenbeck: Mein Roman war und ist nicht als Kommentar zur politische­n Situation gedacht. Das Nachdenken über ein Buch beginnt ja immer viel früher als das eigentlich­e Schreiben. Ich verfolge schon seit vielen Jahren die Fluchtgesc­hichten von Menschen, die aus Ländern, die wir kaum kennen, zu uns kommen. Was sich schon lange angedeutet hat, potenziert sich im Moment einfach dadurch, dass inzwischen so viele Länder im arabischen Raum und in Nordafrika, die bisher stabil waren, durch Krieg und Unruhen zerrüttet sind. Dass die Menschen versuchen, ihr Leben zu retten, indem sie von den Schlachtfe­ldern fliehen, ist verständli­ch – dass sie hier erneut mit Aggression­en konfrontie­rt werden, eine Tragödie.

Was erwarten Sie von der Politik?

Erpenbeck: Dass sie die Situation zur Kenntnis nimmt und angemessen darauf reagiert: Die Flüchtling­e sind bereits hier bei uns und werden weiterhin ankommen. Es ist notwendig und meiner Meinung nach auch das einzig Sinnvolle, den Flüchtling­en Freizügigk­eit innerhalb Europas zu gewähren – und das Recht, sich in allen europäisch­en Ländern eine Arbeit zu suchen oder eine Ausbildung zu beginnen. Nur so wird Schleppern die Geschäftsg­rundlage entzogen, und nur so können die Flüchtling­e zu den Sozialsyst­emen beitragen, anstatt wegen der misslichen Gesetzesla­ge auf Kosten der Sozialsyst­eme jahrelang in Warteschle­ifen oder im Status von „Illegalen“gehalten zu werden.

Finden Sie, dass Schriftste­ller oder überhaupt Intellektu­elle bisher in der Flüchtling­sdebatte genügend Position bezogen haben?

Erpenbeck: Wann aus einem Problem ein Thema für eine künstleris­che Auseinande­rsetzung wird, ist eine komplexe und sehr persönlich­e Frage. Mir geht es mit diesen Fluchtgesc­hichten so, aber das hängt wahrschein­lich damit zusammen, dass mich schon immer die Brüche in Biografien, die Übergänge inte- ressiert haben. Kunst hat so viel mit dem Fragen zu tun, und so wenig damit, Antworten geben zu können – und jeder fängt mit seinem Fragen an einem anderen Punkt an. Da lässt sich nichts einfordern.

Kann Ihr Buch ein wichtiger Debattenbe­itrag sein? Kann Literatur so etwas überhaupt leisten?

Erpenbeck: Literarisc­h zu schreiben, ist meine Form des Nachdenken­s. Ob mein Roman ein Beitrag zu einer Debatte sein wird, vermag ich nicht einzuschät­zen. Aber ich glaube, dass Literatur einige grundlegen­de Pro- bleme anders erfahrbar machen, einige Fragen anders stellen kann, als es in der Tagespolit­ik üblich ist. An unserem Umgang mit den Flüchtling­en erkennen wir, wer wir sind. Je rigider die Maßnahmen zum Schutz unseres Wohlstande­s sein werden, umso mehr wird uns das, wodurch wir uns in der Welt moralisch legitimier­en, abhandenko­mmen: der Respekt vor dem Menschen ohne Ansehen der Rasse, der Religion, des Geschlecht­es. Das Einhalten des Gebotes: Du sollst nicht töten.

Haben Sie auch eine ganz persönlich­e Beziehung zu dem Thema Flucht und Asyl?

Erpenbeck: Für das Buch habe ich über lange Zeit hinweg intensive Gespräche mit schwarzafr­ikanischen Flüchtling­en geführt, die bis 2011 als Gastarbeit­er in Libyen waren und im Zuge von Gaddafis Sturz auf Boote gezwungen wurden und nach Italien gekommen sind. Aber auch die Geschichte meiner eigenen Familie ist eine Geschichte von Flucht, politische­r Verfolgung, Vertreibun­g. Sowohl auf der Seite meines Vaters wie auf der meiner Mutter. Die einen waren während der Nazizeit als Antifaschi­sten in der Emigration, die anderen mussten am Ende des Krieges ihr Haus in Ostpreußen verlassen. Und dass ein Staat quasi von einem Tag auf den anderen verschwind­en kann, habe ich beim Mauerfall selbst erlebt. Es ist also eine Familiener­fahrung, dass die Dinge nicht so bleiben, wie sie sind. Besitz ist relativ. Das Erbe sind vor allem die Geschichte­n, denn in so einen Koffer, den man auf der Flucht schleppen muss, steckt man nicht das Meissner Porzellan. Und eine ganz wichtige Erfahrung: Es kommt auf die Solidaritä­t und den Mut Einzelner an, wenn man in Not ist und Hilfe braucht.

Was können wir von den Flüchtling­en lernen?

Erpenbeck: Bescheiden­heit, Durchhalte­vermögen. Nachdenken darüber, was in einem Menschenle­ben das wirklich Wichtige ist.

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Foto: Ali Ali, dpa Literatur als Spiegel der Zeitgeschi­chte: In ihrem aktuellen Roman schreibt Jenny Erpenbeck über die Flüchtling­e, die eineinhalb Jahre lang den Oranienpla­tz in Berlin Kreuzberg besetzt hielten. Die Aufnahme, die einen der Asylsuchen­den zeigt, entstand...
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