Und schon wieder roter Teppich
Festival Es ist Berlinale. Das heißt: Die einen wollen Filme sehen. Die anderen Stars und Sternchen. Nur halten die immer weniger vom Blitzlichtgewitter, scheint es. Eine Geschichte über begehrte Autogramme, die entscheidenden Zentimeter und den Wert des
Berlin Steffen Tobolt steht am Potsdamer Platz und wartet – seit sieben Uhr in der Früh, noch dazu bei Minusgraden. Aber Tobolt jammert nicht. Weil er das ja kennt, das mit dem Warten und dem Rumstehen. Und weil er weiß, dass es sich, wenn man es nur richtig macht, auch lohnen kann. Erst recht jetzt, zur Berlinale. „Es ist ein bisschen wie Angeln“, erklärt der 30-Jährige, der sich unweit des roten Teppichs platziert hat. „Man freut sich, wenn der Fisch dann anbeißt. Man muss nur Geduld haben.“
Dieses Mal brauchte Tobolt zwölf Stunden Geduld. Dafür hat der Autogrammjäger 250 Euro für eine Natalie Portman. „Richard Gere liegt ungefähr bei 80 Euro“, rechnet der Autogrammjäger vor. Verkaufen wollen die beiden ihre heutige Ausbeute aber nicht. „Wir machen das nur hobbymäßig aus reiner Freude.“
Weil manche aber durchaus vom Handel mit signierten Fotos leben, ist die Jagd nach Autogrammen auch ein umkämpftes Geschäft. Wenige Zentimeter in der Menge können darüber entscheiden, ob ein Star noch unterschreibt, oder ob er genug hat und wieder umkehrt. „Bei jedem zweiten Sammeln kommt es zu Handgreiflichkeiten und Beleidigungen“, berichtet Tobolt. „Das gehört leider dazu.“
Als etwa am Nachmittag Danny Boyle, der britische Regisseur der „Trainspotting“-Filme, in einer Nebenstraße aus einem Seitenausgang tritt, entsteht ruckzuck ein Gerangel. Ein Mann mit einer Mappe voller Starfotos geht zu Boden. Schuld ist wohl eine Tasche, die im Weg steht. Der Ton wird rau. Hier ein: „Räum doch die dämliche Tasche weg“, da ein: „Ich hau dir in die Fresse. Pass doch auf, wo du hintrittst.“
Doch nicht jeder genießt es, auf der anderen Seite der Absperrung zu stehen, dort, im Blitzlichtgewitter, wo man immer lächeln, immer freundlich, immer gut gelaunt sein soll. Für so manchen Prominenten sind die Meter auf dem roten Teppich anstrengend. Fans wollen Selfies, Fotografen den perfekten Schnappschuss, Reporter knackige Zitate – und Menschen wie Steffen eben Autogramme. „Der rote Teppich ist für mich immer ein Stück weit Arbeit“, räumt etwa Til Schweiger ein.
Judith Holofernes, Frontfrau der Band „Wir sind Helden“und mittlerweile solo unterwegs, geht nur noch ungern zu solchen Events. Vor allem wegen der wild durcheinander rufenden Fotografen. „Es ist einfach eine furchteinflößende Situation“, sagt sie. Weil man von allen Seiten angeschrien werde, weil man zeitgleich entspannt aussehen soll. „Die Fotos, die dabei entstehen, sind für immer im Internet. Ich finde es einen reinen Albtraum.“
Für viele aber ist der TeppichDreiklang aus Fans, Fotografen und Fragestellern verlockend. Schließlich können Musiker und Schauspieler sich und ihre neuen Songs und Filme so optimal vermarkten. Das gilt für die Berlinale, aber auch für die Preisverleihungen, auf die in diesen Tagen die ganze Welt schaut: die Grammys am vergangenen Wochenende oder kommende Woche die Oscars.
In Berlin dürften die Autogrammjäger dennoch zufrieden sein. Senta Berger, Iris Berben, Veronica Ferres und Matthias Schweighöfer lassen sich am Potsdamer Platz blicken. Auch Til Schweiger kommt nicht daran vorbei, selbst wenn er sagt: „Wenn ich mal durch den Hintereingang auf eine Gala gehen kann, feiere ich das immer wie einen kleinen Sieg.“
In diesem Jahr dürften noch mehr Menschen als sonst am roten Teppich stehen. Und nicht alle sind Fans, wie Festival-Chef Dieter Kosslick sagt. Die Zahl der Sicherheitskräfte wurde erhöht. Erstmals wurden zur Berlinale Betonstraßensperren aufgestellt. Auch mit MaTobolt schinenpistolen bewaffnete Einsatzkräfte sind vor Ort, teilt Polizeisprecher Stefan Petersen mit. Die Erinnerung an den Terroranschlag am Breitscheidplatz ist noch frisch. Zwei Monate sind vergangen, seit ein Attentäter mit einem Sattelschlepper in den Weihnachtsmarkt fuhr, dabei zwölf Menschen tötete und mehr als 50 verletzte.
Der junge Polizist, der gerade mit seinen beiden Kollegen Kaffeepause macht, hat bisher am meisten mit falsch geparkten Autos zu tun. Und doch gehe es darum, „präsent zu sein und Sicherheit auszustrahlen“. Und das in der Regel in Zehn-Stunden-Schichten. Zeit, um selbst in die eine oder andere Vorstellung zu gehen, bleibt da nicht.
Tengyen Chen hat in vier Tagen schon ein Dutzend Filme gesehen. Jeden Morgen steht er Stunden, bevor der Ticketverkauf in den Potsdamer Platz Arkaden beginnt, am Schalter. Um ihn herum: Filmfans, die es sich auf Klappstühlen und mit Decken bequem gemacht haben, heißen Kaffee aus Thermoskannen trinken, lesen oder sich mit dem Handy beschäftigen.
„Ich möchte so viele Filme wie möglich anschauen“, sagt der taiwanesische Student, der im britischen Kent Film studiert und Drehbuchautor werden will. Hier, bei der Berlinale, bekomme er viel Inspiration, sagt der 28-Jährige. Wenn heute alles klappt und Tengyen Chen alle Eintrittskarten bekommt, die er haben möchte, kann er vier weitere Filme abhaken. Auf Zetteln hat er alle notwendigen Informationen wie Titel, Uhrzeit, Aufführungsort und Buchungscode aufgelistet, hat die Vorstellungen mit unterschiedlichen Farben markiert. Sein erster Wunschfilm beginnt um zwölf Uhr mittags, der letzte endet wohl erst gegen Mitternacht.
Damit hat er sich ein Pensum vorgenommen, wie es viele der knapp 4000 Journalisten täglich absolvieren. Von einer Vorführung mit anschließender Pressekonferenz geht es zur nächsten. Gerade strömt ein Schwarm Medienvertreter aus dem Kinosaal ins fahle Tageslicht. Einem Mann ist wohl das Zeitgefühl abhandengekommen. Ungläubig blickt er auf sein Handy, staunt, wie spät es schon ist. „I was totally living
Klappstühle, Decken und Kaffee aus Thermoskannen
in the movies. You know?“, sagt er. Spätestens am Sonntagabend, wenn die Berlinale zu Ende geht, wird ihn die Realität wohl wieder einholen.
Daran will Steffen Tobolt noch gar nicht denken. Noch laufen die Filmfestspiele, noch ist genug Zeit, um weitere Autogramme zu sammeln. Auch, wenn er dafür die 550 Kilometer von seinem Wohnort Bopfingen nahe Nördlingen bis nach Berlin fahren musste. Auch, wenn er dafür stundenlang am Potsdamer Platz ausharren muss. Der 30-Jährige weiß nur zu gut, dass sich das Warten lohnen kann. Vor fünf Jahren hat er so seine Freundin kennengelernt. Seither stehen sie gemeinsam am roten Teppich.