Auf den Azoren mittendrin im Nirgendwo
Portugal Die Abgeschiedenheit der Inselgruppe hat einen besonderen Charme. Wer Stress und Hektik hinter sich lassen möchte, kann hier viel erleben. Man sollte Regen allerdings nicht als Reisemangel empfinden
Manchmal ist es nützlich, wenn man nicht zu den Ersten gehört, die sich in den Reisebus setzen wollen. Der war an jenem Freitagmorgen noch verschlossen. Die Handvoll Abfahrbereiter hätte sich zu diesem Zeitpunkt besser nicht im Freien aufgehalten. Es dauert nur sieben, acht Sekunden. Scheinbar aus dem Nichts schüttet es ebenso unerwartet wie punktgenau auf diese Auserwählten. Dann ist der Spuk vorüber. Der Regen hatte sich nicht in den großen Blättern hoher Bäume gesammelt und war dann von Windböen so gezielt verteilt worden. Und ein Hollywood-Streifen mit der Szene „Plötzlicher Schauer vor dem Hotel Caloura in Agua De Pau“wurde ebenfalls nicht gedreht...
Des Rätsels Lösung hat dennoch mit dem Aufenthaltsort zu tun – den Azoren. Auf dem vom Atlantik umtosten Inselarchipel ist sicher, dass es regnet. Nur wann, wie lange und wie heftig – das scheint für Außenstehende so schwer vorhersagbar zu sein wie die Lottozahlen. Jedenfalls, das wird an diesem Morgen klar, gewinnt hier ein Sprichwort eine sehr nachfühlbare Bedeutung: Wie aus heiterem Himmel.
Grau ist der Himmel häufig während des Inselaufenthalts. Tief hängen die Wolken und liefern ihre nasse Fracht ab. Aber immer wieder reißt es auch auf. Im Wald dampft es, nachdem die letzten Regentropfen Sao Miguel – eine von neun bewohnten Inseln des Archipels – getroffen haben und nun eine Pause einlegen. Es ist die Sprache der Urwüchsigkeit, die hier am Kraterrand von Sete Cidades im Westen der Insel die Sinne erreicht: der sich langsam lichtende Nebel, der den Blick auf sattgrüne Pflanzen preisgibt. Und der leicht modrige, aber nicht unangenehme Geruch, der dem Wanderer dann auffällt, wenn er an diesem alltäglichen Naturschauspiel auf der Jagd nach den vermeintlichen Sehenswürdigkeiten nicht vorbeihastet, sondern sich Zeit nimmt.
Wer die Tretmühle des Alltags verlassen und zu sich kommen möchte im Hier und Jetzt, ist auf den Azoren richtig. Die Natur ist der größte Trumpf der Inselgruppe, die irgendwo im Nirgendwo zwischen Portugal und den USA liegt. Viele kommen, um im Atlantik Wale und Delfine zu beobachten. Wanderer sind gerne in Lorbeerwäldern, zwischen Hortensien, Azaleen und wildem Ingwer unterwegs.
Am Visto do Rei können Besucher – wie der Name schon sagt – einen „königlichen Blick“auf den „Blauen See“und den „Grünen See“von Sete Cidades werfen. Durch einen schmalen Durchlass sind die Seen miteinander verbun- den. Eine Brücke für den Straßenverkehr führt über eine der beeindruckendsten Attraktionen des Archipels. Nach einem Vulkanausbruch in der Mitte des 15. Jahrhunderts sind die Kraterseen entstanden. Viel poetischer aber ist die Entstehungsgeschichte aus anderer Warte. Es geht um eine unglückliche Liebe. Einer Version dieser Sage zufolge musste sich eine Prinzessin von ihrem Verliebten trennen. Der König sah die Liaison mit einem Hirten alles andere als standesgemäß an. Er hatte einen Adeligen auserkoren und alles für das Töchterchen arrangiert. Ein letztes Mal trafen und küssten sich die Verliebten – und weinten, wo sich heute die Seen berühren. Aus den Abschiedstränen der blauäugigen Prinzessin wuchs der Blaue See. Die Tränen des jungen Hirten mit seinen grünen Augen füllten den Grünen See.
Wer mit so viel Gefühlsduselei nichts anzufangen vermag oder – noch schlimmer – wem dicke Nebelschwade²n den Blick aufs Wasser verwehren, der dreht sich am besten um 180 Grad und vergisst für kurze Zeit, dass es eigentlich nicht erlaubt ist, die Hotelruine, die dann vor einem liegt, zu betreten. Das „Monte Palace“war als Fünf-Sterne-Hotel geplant. Doch der erste Bauträger ging pleite. Der Staat nahm sich der Sache an und eröffnete 1989, allerdings nur für wenige Wochen. Wegen des unsicheren Wetters kamen deutlich weniger Gäste als erhofft. Die Ruine ist stummer Zeuge des erfolglosen Versuchs, Touristen in großem Stil auf Sao Miguel zu holen. Sie wirkt wie ein riesiger Abenteuerspielplatz für Erwachsene, die sich mit ihrem Forscherdrang in mystische Welten vorwagen. Die Pracht dieses Ortes ist lange verflogen. Das macht ihn interessant, auch wenn Einheimische diesen Schandfleck den Besuchern am liebsten vorenthalten würden.
Wer noch weiter in den Westen fährt, hat im 1300-Einwohner-Ort Ginetes die Chance zu erfahren, wie die bäuerliche Landwirtschaftfrüher funktioniert hat und wie sie heute läuft. In der Quinta das Raiadas, kommt die Bauernfamilie mit den Touristen zusammen. Eine niedrige Stube ist dem Verfall entrissen und auf alt und schön getrimmt worden. Amelia, die Hausherrin trägt Haube und Schürze und lädt ein, beim Brotbacken mitzuhelfen. 500 Gramm Weizenmehl, Hefe, Zucker, Salz, Olivenöl, Wasser und Essig sind in Glasschüsseln auf einem Tisch ausgebreitet. Alles richtig vorportioniert geht für eine Besucherin die Kneterei los. Nach einer Stärkung für alle werden die Pferde vor zwei Kutschen gespannt. Es ist eine langsame und kurze Fahrt. Auf einem der zwei Kutschböcke sitzt Francisco Melo, der der Bauernfamilie hilft. Der Mann wurde vor 51 Jahren im US-Bundesstaat Massachusetts geboren. In den 50er-Jahren sind viele von den Azoren nach Amerika ausgewandert, weil sie in der Heimat keine wirtschaftlichen Perspektiven sahen. Auch heute noch halten sich viele Einwohner auf den Azoren mit Tourismus, Landwirtschaft, EU-Subventionen und Geld von Verwandten, denen es besser geht, über Wasser. „Meiner Mutter hat es in den USA nie gefallen. Und irgendetwas hat mich hierher gezogen vor 25 Jahren nach der Militärzeit“, erzählt Melo. Ist es die frische, salzhaltige Luft? Die an manchen Stellen geradezu überbordende Natur? Die zurückhaltende, aber herzliche Art der einfach lebenden Menschen? Oder ist er einfach an seinem Bestimmungsort angekommen? Vielleicht eine Mischung aus allem, sinniert der Mann