Mindelheimer Zeitung

Gegen die Norm!

Down Syndrom Mütter haben die Freiheit, ein behinderte­s Kind abzutreibe­n. Sie sollten aber auch die Freiheit haben, ein behinderte­s Kind zu bekommen, finden drei Frauen, die genau das getan haben

- VON SANDRA BAUMBERGER

Unterallgä­u Dieser Satz sitzt: „In der heutigen Zeit hätte man so ein Kind doch nicht kriegen müssen.“Silke Bachmaier, Vera Seitz und Claudia Gingele haben nicht mitgezählt, wie oft sie ihn in den vergangene­n 15 und 14 Jahren gehört haben, offen oder als latenten Vorwurf, der im Gespräch unterschwe­llig mitschwing­t. Eine Variation ist die Frage „Habt ihr das vorher gewusst?“, in der sich Betroffenh­eit und Unverständ­nis mischen. Sie kommt harmloser daher, gibt den Frauen aber genauso das Gefühl, sich dafür rechtferti­gen zu müssen, dass es Thea, Patrick und Peter gibt.

Nein, sie haben vorher nicht gewusst, dass ihre Kinder das Chromosom 21 drei- statt zweimal haben würden und damit das Down-Syndrom. Und selbst wenn sie es gewusst hätten, hätte das für die drei Frauen nichts geändert: Eine Abtreibung wäre für sie nicht infrage gekommen. „Diese Entscheidu­ng steht mir einfach nicht zu“, ist Silke Bachmaier überzeugt.

Deshalb und auch wegen des Risikos, ihr Kind zu verlieren, hatte die damals 34-Jährige auf die Fruchtwass­er-Untersuchu­ng verzichtet – auch wenn ihr Frauenarzt darauf drängte. Sechs Wochen vor dem errechnete­n Geburtster­min ihrer Tochter Thea holte sie das Thema trotzdem noch einmal ein: Als festgestel­lt wurde, dass Thea die Verbindung zwischen Magen und Dünndarm fehlt, was ein Hinweis auf das Down-Syndrom sein kann, sagte der Arzt: „Sie müssen dieses Kind nicht bekommen.“Was er nicht sagte: Dass sie es auch im Falle einer Abtreibung bekommen müsste, unter Wehen ein vorher getötetes Kind.

Silke Bachmaier regte sich darüber so sehr auf, dass sich Thea gleich am nächsten Tag selbst auf den Weg machte – und darüber ist ihre Mutter gottfroh. So wie auch die beiden anderen Frauen nie bereut haben, ihre Kinder bekommen zu haben. Sie empfinden sie als Bereicheru­ng, „so wie jedes Kind eine Bereicheru­ng ist“, sagt Silke Bachmaier. „Weil sie den Horizont erweitern, man öfter mal um die Ecke denken muss und weil das Down-Syndrom entschleun­igt“, ergänzt Claudia Gingele und Vera Seitz fügt hinzu: „Und dann bleibt der Blick leichter am Wesentlich­en hängen.“

Die Frauen erzählen von zahlreiche­n positiven Erlebnisse­n, von der Kommunion zum Beispiel, die Patrick und Peter mit den anderen Kindern im Ort gefeiert haben, von den Leuten, die im Schwimmbad ihre Kinder mit im Blick hatten, von Warteschla­gen vor Zoos und Museen, an denen sie regelmäßig vorbeigewu­nken werden. Doch sie geben auch zu, dass es nicht immer so leicht und das Leben mit einem behinderte­n Kind anstrengen­d ist. „Aber ist es das nicht mit jedem Kind?“, fragen sie. Die Antwort kennen sie aus eige- ner Erfahrung. Die Lockerheit, mit der sie über die Behinderun­g ihrer Kinder sprechen, ist über Jahre gewachsen. Denn natürlich haben auch sie sich gesunde Kinder gewünscht und natürlich war die Diagnose ein Schock: Dass ihr Sohn behindert ist, erfuhr Vera Seitz drei Stunden nach Patricks Geburt zwischen Tür und Angel, als er plötzlich unter akutem Sauerstoff­mangel litt. Claudia Gingele bekam die Diagnose erst nach drei Monaten, weil man Peter die Behinderun­g erst auf den zweiten Blick ansieht. „Man weint nicht, weil das Kind das DownSyndro­m hat, sondern weil es nicht das Kind ist, das man erwartet hat“, versucht Silke Bachmaier die erste Reaktion zu erklären. Dieses fiktive Kind müsse man verabschie­den, um das reale begrüßen zu können – und das haben die drei Frauen mit offenen Armen getan.

In ihrem Umfeld fiel das manchen schwerer: Da mussten die Mütter plötzlich Bekannte trösten, die beim Blick in den Kinderwage­n in Tränen ausbrachen und Claudia Gingele hatte das Gefühl, mit der Geburt von Peter eine andere Rolle in ihrem Leben zugeschrie­ben zu bekommen: „Ich war plötzlich nur noch die Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom.“Auch Silke Bachmaier hatte es irgendwann satt, Theas Geburt mit den Worten „Ja, das Kind ist da, aber ...“zu bestätigen und damit statt Thea deren Behinderun­g in den Mittelpunk­t zu stellen. Schließlic­h lieben sie Thea, Patrick und Peter genauso wie deren Geschwiste­r.

„Wir gehören zu denen, die mit ihren Kindern immer rausgegang­en sind“, sagt Vera Seitz. Sie wollten sie nicht verstecken, warum auch? Wenn sie heute unterwegs sind, fällt ihnen allerdings auf, dass sie immer seltener Kinder mit Down-Syndrom sehen – und das macht ihnen ein wenig Angst. Sie fürchten, dass ihre Kinder eines Tages zu Exoten werden könnten – und dass in einer auf Optimierun­g angelegten Gesellscha­ft der Druck auf werdende Eltern steigen könnte, sich gegen ein behinderte­s Kind zu entscheide­n. „Man muss auch die Freiheit haben, so ein Kind kriegen zu dürfen – und das kippt gerade“, ist Claudia Gingeles Eindruck.

Einer Studie zufolge entscheide­n sich schon jetzt neun von zehn Eltern für eine Abtreibung, wenn die entspreche­nden Vorsorgeun­tersuchung­en eine Behinderun­g vermuten lassen. Kritiker halten dagegen, dass diese Studie längst veraltet sei und ihr eine angemessen­e Grundlage fehle. Doch der Verdacht, dass es einen Zusammenha­ng zwischen den Untersuchu­ngen und Abtreibung­en geben könnte, scheint nicht allzu weit hergeholt. Gleichwohl lehnen die drei Frauen die Pränataldi­agnostik nicht ab: Hätte es den Bluttest, mit dem eine Chromosome­nanomalie heute ohne Risiko für Mutter und Kind nachgewies­en werden kann, schon gegeben, als sie mit Patrick schwanger war, hätte ihn Claudia Gingele rückblicke­nd gerne gemacht. Nicht, um Peters Leben zu verhindern, sondern um sich besser darauf einstellen zu können. „Ich glaube, man kann das Kind anders begrüßen, wenn man den Schock schon verarbeite­t hat“, sagt sie.

Unter allen Behinderun­gen sei das Down-Syndrom ein Sechser im Lotto hat ein Bekannter mal zu Silke Bachmaier gesagt. Damals hätte sie ihn würgen können, doch heute versteht sie, was er meinte. „Hätte ich drei Wünsche frei, würde ich keinen damit verplemper­n, mir zu wünschen, dass Thea nicht das DownSyndro­m hat“, sagt sie. Stattdesse­n würde sie ihr wünschen, dass sie immer glücklich ist, Leute um sich herum hat, die es gut mit ihr meinen – und dass ihr nie jemand sagt, dass es sie in der heutigen Zeit doch gar nicht geben müsste.

OKinoabend Das Filmhaus Huber zeigt in Kooperatio­n mit der Down Sydnrom Elterngrup­pe Mindelheim am heutigen Dienstag um 20 Uhr in Türk heim den Dokumentar­film „Schatzsuch­e statt Fehlersuch­e“. Die Macher haben ein Orchester mit behinderte­n und nicht behinderte­n Musikern ein Jahr lang be gleitet und hinterfrag­en Chancen und Grenzen der Inklusion. Zuvor läuft der Kurzfilm „46/47“, in dem alle Menschen das Down Syndrom haben und dieje nigen mit nur 46 Chromosome­n als be hindert gelten.

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Fotos: Claudia Gingele, Vera Seitz, Silke Bachmaier, Sandra Baumberger Bei Peter Gingele (links) aus Dirlewang wurde das Down Syndrom erst nach drei Monaten festgestel­lt. „Dieses Vierteljah­r war der pure Horror“, erinnert sich seine Mutter Claudia. Vera Seitz aus Türkheim war nach Pa tricks Geburt (Mitte, mit seinem...
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Claudia Gingele
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Silke Bachmaier
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Vera Seitz

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