Absturz eines Liebenden?
Begegnungen mit Walser: Das sind auch Begegnungen mit Reaktionen auf das Werk dieses Schriftstellers. Begegnungen mit zustimmenden oder ablehnenden Urteilen, an denen die eigene Lese-Erfahrung sich misst. So wie 2008, als „Ein liebender Mann“erschien. Ein Roman über jene späte Episode in Goethes Leben, da der 74-Jährige heftig für die 19 Jahre alte Ulrike von Levetzow entflammte und sogar um ihre Hand anhielt, die jedoch ausgeschlagen wurde. Walsers Erzählung des aufschießenden (und wohl recht einseitigen) Liebesgefühls – gekonnt leichtfüßig sei das geschrieben, befand weithin die Kritik.
Wäre da nicht das letzte Drittel des Romans, wo Walser seinen Goethe Briefe an Ulrike schreiben lässt: Briefe, die der reale Goethe wohl niemals aufsetzte, Briefe, in denen Walser den Dichter an seinem fortgeschrittenen Alter leiden lässt wie einen Hund. Auch hier war das kritische Echo überwiegend einmütig: Ein „klaftertiefer Absturz“sei das im Vergleich zum schönen Beginn des Romans; der Olympier, von Walser vorgeführt als liebeswunder Teenager… Aber, fragt man sich selbst beim Lesen des Romans, ist es nicht eher so, dass Walser hier eine Ehrfurchtsgestalt ins nackte Leben holt, wenn er die Macht des Eros auch fürs höhere Alter reklamiert? Fernliegendes, durch Lektüre hereingeholt in den eigenen Erfahrungsraum – das verdankt man einer solchen Begegnung mit Walser.