Paul Auster: Die Brooklyn Revue (53)
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzung von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Honey schaute ihn über den Tisch hinweg an, und als ich Tränen in ihre Augen treten sah, hatte ich keine Zweifel mehr, dass Stanleys dralle, großherzige Tochter in Liebe zu meinem Neffen entflammt war.
Aber was war mit Tom? Ich bemerkte zwar, dass er inzwischen Notiz von ihr nahm, nicht mehr so reserviert und aggressiv mit ihr sprach - aber was hatte das zu bedeuten? Es konnte auf zunehmendes Interesse hindeuten, aber ebenso gut konnten es einfach seine guten Manieren sein.
Eine kurze Szene vom Ende des Abends. Ich will sie als letztes Beweisstück vorlegen, egal, ob sie die Frage beantwortet oder nicht.
Als wir mit der Nachspeise fertig waren, lag Lucy bereits oben im Bett; die vier am Tisch verbliebenen Erwachsenen waren alle leicht angetrunken. Stanley schlug eine Runde Poker vor, in aller Freundschaft, versteht sich; er mischte die Karten, sprach von seinem neuen
Leben in den Tropen (bei Sonnenuntergang am weißen Strand unter einer Palme sitzen, einen Rumcocktail in der einen Hand, eine Montecristo in der anderen, und dem Auf und Ab der Brandung zuschauen) und zeigte uns beim Poker, was eine Harke ist: Er gewann drei Viertel aller Spiele, die wir machten. Was hätte ich nach der Abreibung, die er mir am Nachmittag beim Tischtennis verpasst hatte, auch anderes erwarten können? Der Mann schien in jedem Fach zu glänzen, und Tom und Honey lachten über ihre Ungeschicktheit und setzten immer verrücktere Beträge, während Stanley uns ein ums andere Mal ausmanövrierte. Ihr Lachen hatte für mich etwas Komplizenhaftes, und während ich die beiden jungen Leute hinter meinen Karten versteckt beobachtete, nahm ich mir bewusst vor, nicht darin einzustimmen. Als das Spiel zu Ende ging, sagte Tom etwas, das mich überraschte. „Fahr nicht nach Brattleboro zurück“, sagte er zu Honey. „Wir haben schon nach Mitternacht, und du hast zu viel getrunken.“
Einfach gute Manieren - oder ein raffinierter Trick, sie ins Bett zu locken?
„Ich finde den Weg mit geschlossenen Augen“, antwortete Honey. „Mach dir um mich mal keine Sorgen, Kleiner.“
Darauf erklärte sie, sie müsse am nächsten Morgen besonders früh aufstehen (Elternsprechtag oder etwas Ähnliches), aber mir entging nicht, dass Toms Aufmerksamkeit sie gerührt hatte, oder jedenfalls bildete ich mir das ein. Dann bekam jeder von ihr einen Kuss zum Abschied. Erst ihr Vater, dann ich einen leichten Tupfer auf die Wange und als Letzter Tom. Und er bekam nicht nur einen Kuss auf die Lippen, sondern wurde auch noch in die Arme genommen - und zwar ausgiebig und deutlich länger, als man in so einer Situation erwarten konnte.
„Gute Nacht zusammen“, sagte Honey, ging zur Tür und winkte noch einmal. „Bis morgen.“
Am nächsten Tag kommt sie schon um vier und bringt fünf Hummer, drei Flaschen Champagner und zwei verschiedene Nachspeisen mit. Wieder bereitet unsere außerordentlich talentierte Köchin uns ein Festmahl zu, und da sich nun auch Lucy am Gespräch beteiligt, bestreiten Grundschullehrerin und Grundschülerin einen großen Teil der Konversation während des Essens, indem sie einander die Titel ihrer Lieblingsbücher aufzählen. Al Junior und Al Senior haben sich noch nicht mit meinem Auto blicken lassen, ich verkünde aber trotzdem, dass der Olds repariert sei und uns morgen wieder zur Verfügung stehe. Angesichts der angeregten Gespräche am Tisch verschweige ich die Ursache unserer Panne, um nicht durch Erwähnung einer so unerfreulichen Sache einen Misston in die Stimmung zu bringen. Tom weiß inzwischen Bescheid, aber auch er möchte lieber nichts von dem bösen Streich erzählen, den man uns gespielt hat. Honey und Lucy brechen ihre Hummer auf und singen dazu alberne Lieder, und warum sollte man ihnen mit einer deprimierenden Schilderung von Klassenressentiments und provinziellen Animositäten die gute Laune verderben?
Als ich Lucy nach oben ins Bett bringe, merke ich, dass ich zu erschöpft bin, um den zweiten Abend hintereinander lang aufzubleiben und mit den anderen ein Glas Wein nach dem andern zu kippen. Die Chowders vertragen beide eine ganze Menge, und Tom mit seiner massigen Figur und seinem gewaltigen Durst kann Glas für Glas mit ihnen mithalten, während ich als ausgemergelter ehemaliger Krebspatient nur ein kleines Fassungsvermögen besitze und fürchten muss, am nächsten Morgen mit einem Kater aufzuwachen.
Ich setze mich zu Lucy auf die Bettkante und lese ihr aus Zane Greys Roman vor, bis sie die Augen schließt und einschläft. Als ich nach nebenan auf mein Zimmer gehe, dringt aus dem Speiseraum unten Lachen an mein Ohr. Stanley sagt, er sei „vollkommen erledigt“, und dann bemerkt Honey etwas über „das Charlie-Chaplin-Zimmer“und fügt hinzu: „Vielleicht ist das gar keine schlechte Idee.“Ich kann nur vermuten, worüber sie reden, aber eine Möglichkeit wäre die: Stanley will zu Bett gehen, und Honey hat zu viel getrunken, um noch nach Hause fahren zu können, und will die Nacht im Gasthof verbringen. Wenn ich nicht irre, liegt das Charlie-Chaplin-Zimmer unmittelbar neben dem von Tom.
Ich krieche ins Bett und fange mit der Lektüre von Italo Svevos Ein Mann wird älter an. Das ist mein zweiter Svevo-Roman in weniger als zwei Wochen, aber Zenos Gewissen hat einen so starken Eindruck auf mich gemacht, dass ich beschlossen habe, alles von diesem Autor zu lesen, was ich in die Finger bekommen kann. Der italienische Originaltitel lautet Senilità, genau das richtige Buch für einen alten Knacker wie mich. Ein älterer Mann und seine junge Geliebte. Die Leiden der Liebe. Vereitelte Hoffnungen. Immer nach einem oder zwei Absätzen lege ich eine Pause ein, denke an Marina Gonzalez und quäle mich mit der Vorstellung, dass ich sie nie mehr wiedersehen werde. Ich würde jetzt gern masturbieren, widerstehe aber dem Drang, da die rostigen Sprungfedern mich verraten würden. Immerhin schiebe ich gelegentlich eine Hand unter die Decke und fühle nach meinem Schwanz. Nur um mich zu vergewissern, dass er noch da ist, um festzustellen, dass mein alter Freund noch bei mir ist.
Eine halbe Stunde später höre ich Schritte die Treppe hinaufkommen. Zwei Paar Beine, zwei Flüsterstimmen: Tom und Honey. Sie gehen durch den Flur auf mein Zimmer zu, bleiben stehen. Ich spitze die Ohren, um wenigstens etwas von ihrem Gespräch zu erlauschen, aber sie reden so leise, dass nichts zu verstehen ist. Schließlich höre ich Tom „Gute Nacht“sagen, und gleich darauf geht die Tür des Charlie-ChaplinZimmers auf und wieder zu. Drei Sekunden später das Gleiche mit der Tür des Buster-Keaton-Zimmers. »54. Fortsetzung folgt