Wenn der Täter aus der eigenen Familie kommt
Prävention Experten diskutieren unter der Leitung eines Bad Wörishofer Traumatherapeuten über sexuelle Gewalt, eine der größten Gefahren für Kinder und Jugendliche
Wertachtal Eine der größten Bedrohungen von Kindern und Jugendlichen ist sexuelle Gewalt. Wie es gelingt, diese Bedrohung zu erkennen und zu vermeiden, diskutierte nun eine Expertenrunde unter der Moderation des Bad Wörishofer Traumatherapeuten Dr. Markus Henniger. Veranstalter des Informationsabends war das Traumanetz Allgäu/Lech – ein Arbeitskreis bestehend aus Fachkräften für Opferhilfe aus der Region. Das Netzwerk existiert seit zehn Jahren.
Neben Mitarbeitern aus Schulen, Kitas und Vereinen waren auch zahlreiche Eltern und Jugendliche gekommen, um sich über das schwierige, oft tabuisierte Thema zu sprechen. Fragen wie „Wie schütze ich ein Kind vor sexueller Gewalt?“, „Was kann ich bei Verdacht tun?“, zeigten den großen Informationsbedarf der Anwesenden.
Monika Stefanz von der Fachstelle für Opfer sexualisierter Gewalt in Kaufbeuren hielt den einleitenden Vortrag. Grundsätzlich ging es dabei um den sperrigen Begriff sexueller Missbrauch. Laut Definition ist sexueller Missbrauch jede sexuell motivierte Handlung an, vor oder mit einem Kind, mit oder ohne Gewalt, mit oder ohne Einverständnis des Kindes.
„Es ist davon auszugehen, dass Kinder grundsätzlich kein Bedürfnis nach Sexualität mit Erwachsenen haben“, sagte Stefanz. Es solle vielmehr immer von der Bedürfnisbefriedigung eines Erwachsenen ausgegangen werden. Dabei setzten Erwachsene ihre Überlegenheit gezielt ein, um zu ihrem Ziel zu kommen. Täter im rechtlichen Sinn sind im Übrigen auch diejenigen, die pornografisches Material zeigen oder weiterverbreiten. „Deshalb ist beispielsweise die Weitergabe von Bildern über Handys sehr problematisch“, betonten Stefan und Michaela Kalcher.
Die Täterstrategie des Missbrauchs beginne häufig mit scheinbar zufälligen Berührungen. Um Kinder vor Übergriffen zu schützen, ist das Wissen über das Vorgehen der Täter wichtig. So gebe es zwei Tätergruppen: fremde Personen, die aber nur 13 Prozent ausmachen, und Menschen im Umfeld der Kinder, oft in der eigenen Familie. „Genau das ist am wenigsten vorstellbar“, lautete die Erkenntnis der Runde. Im sozialen Umfeld, also
auch an Orten der Freizeitgestaltung und in schulischen Einrichtungen, bauen die Täter langsam eine Vertrauensbeziehung zu einem Kind auf, um dieses Vertrauen dann gezielt zu missbrauchen. Dabei werden die Opfer vom Täter gezielt ausgesucht – nach Kriterien, die am
wenigsten Widerstand erwarten lassen. Besonders problematisch sei es, wenn Kinder durch die Drohung, es geschehe ansonsten ihm oder einem Familienmitglied etwas Schreckliches, zum Schweigen gebracht würden, erläuterte Monika Stefanz. Siegmar Möhl von der Wasserwacht
Buchloe verwies auf ein seit zehn Jahren bestehendes Netzwerk, das die Wasserwacht ins Leben gerufen hat: „Sicher im Verein“.
Kommt es zu sexuellem Missbrauch, wollen Kinder ihre Eltern häufig nicht traurig machen, fühlen sich schlecht und geben sich selbst die Schuld, berichtete Stefanz. Das Risiko für Mädchen und Buben Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden, sei ähnlich hoch. Doch gerade die Scham bei Buben, für homosexuell gehalten zu werden, sei eine weitere Hürde, sich Hilfe zu holen.
Bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch ist das Verfahren folgendes: Die Fachleute versuchen, behutsam zu erkunden, was das Opfer braucht. „Die Beratung ist immer freiwillig“, betonten die Podiumsteilnehmer. Oft finde der Erstkontakt zur Beratungsstelle durch Schulsozialberater oder Mitarbeiter von Kindertagesstätten statt. „Traumatisierungen durch Personen im Elternhaus haben die schlimmsten Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes“, berichtete Ursula Bußler.
Dabei seien Anzeichen für sexualisierte Gewalt an einem Kind erkennbar: plötzliche Verhaltensänderungen, wie Verschlossenheit oder Leistungsabfall, können Hinweise sein. Auch Selbstverletzungen im Jugendlichenalter sollten abgeklärt werden, hieß es.
Wichtig sei es, dass Eltern ihre Kinder altergemäß aufklären und ihnen beibringen, Nein zu sagen. Eine gute Selbstwahrnehmung für den eigenen Körper und die Gewissheit für Kinder, dass die Eltern ihnen glauben, wenn sie in großer Not sind, seien wichtig, um vorzubeugen.
Bei Verdacht auf sexuelle Gewalt bei Trennungssituationen in Familien arbeite das Jugendamt, so die Marktoberdorfer Leiterin Petra Mayer, sehr behutsam im Sinne der Kinder. Zur Frage, ob ein mutmaßlicher Täter angezeigt werden soll, äußerten sich Dagmar Bethke vom Polizeipräsidium in Kempten und die dort ansässige Rechtsanwältin Josefine Nitzl-Zels. Dabei gebe es kein klares Ja oder Nein. Jeder einzelne Fall müsse vielmehr von allen Seiten betrachtet werden. Fakt ist, dass ein Strafverfahren anläuft, wenn Anzeige erstattet wird, „dann gibt es kein Zurück mehr“, sagte Nitzl-Zels. Deshalb sei die kompetente Hilfe, Unterstützung und Beratung im Vorfeld wichtig. Anzuraten sei dabei eine Traumatherapie zur schnellen Verarbeitung des Geschehens. Mit einer wichtigen Erkenntnis endete die Runde: „Ruhe bewahren, sich zeitnah Unterstützung holen, sich vernetzen und viele Leute ins Boot holen.“