Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (18)
MNur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
iss Geraldine habe ihr erlaubt, mitten unter der Woche vor vier Uhr nachmittags im Billardzimmer eine Musikkassette zu hören; Miss Geraldine habe während einer Exkursion allgemeines Schweigen befohlen, aber als Ruth zu ihr aufschloss, habe sie ein Gespräch mit ihr angefangen und dann der ganzen Gruppe zu reden erlaubt. Immer waren es solche und ähnliche Geschichten; nie explizite Behauptungen, sondern immer nur Andeutungen mit einem Lächeln und mit dieser Miene, die ausdrückte: Mehr verrate ich nicht.
Offiziell durften die Aufseher selbstverständlich niemanden bevorzugen, in der Praxis aber kam es immer wieder zu kleinen Zuneigungsbekundungen, die sich allerdings im Rahmen hielten, und Ruths Andeutungen fügten sich meistens in dieses Schema ein. Dennoch konnte ich es nicht leiden, wenn sie sich in obskuren Anspielungen erging. Natürlich war ich nie sicher, ob sie nicht vielleicht doch
die Wahrheit sagte, aber da sie eigentlich nie etwas Konkretes sagte, sondern immer nur durch die Blume sprach, konnte man sie nie zur Rede stellen. Mir blieb dann nichts anderes übrig, als mir auf die Unterlippe zu beißen und zu hoffen, dass der Augenblick schnell vorübergehe.
Manchmal erkannte ich am Verlauf, den ein Gespräch nahm, dass wieder so ein Moment bevorstand, und wappnete mich innerlich, aber selbst dann traf es mich mit einer solchen Wucht, dass ich mehrere Minuten lang nicht mehr mitbekam, was ringsum geschah. Bei diesem ersten Mal aber, an dem Wintermorgen in Raum 5, war es wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Auch nachdem ich das Federmäppchen gesehen hatte, war die Vorstellung eines solchen Geschenks von einer unserer Aufseherinnen so weit jenseits des Möglichen und Denkbaren, dass ich völlig unvorbereitet auf Ruths Andeutung war. Als es heraus war, brachte ich es wieder einmal nicht fertig, einfach abzuwarten, bis mein Gefühlsaufruhr sich gelegt hatte, sondern starrte sie wortlos an. Ich versuchte erst gar nicht, meinen Zorn zu verbergen. Vielleicht erkannte Ruth die Gefahr, jedenfalls warf sie mir flüsternd, aber unüberhörbar hin: „Kein Wort!“, und lächelte wieder. Aber ich konnte ihr Lächeln nicht erwidern, sondern funkelte sie wütend an. Zum Glück erschien endlich der Aufseher, und der Unterricht begann.
Als Kind war es nicht meine Art, stundenlang dumpf vor mich hinzubrüten. Heute neige ich eher dazu, aber das liegt an meiner Arbeit und an den langen Stunden der Stille, in denen ich auf leeren Straßen übers Land fahre. Früher war ich anders als, sagen wir, Laura, die sich trotz ihrer ständigen Kaspereien tage, ja wochenlang über irgendeine harmlose Bemerkung den Kopf zerbrechen konnte. Aber nach diesem Erlebnis in Zimmer 5 lebte ich eine Zeit lang wie in Trance, verlor mitten im Gespräch plötzlich den Faden, und ganze Unterrichtsstunden zogen an mir vorüber, ohne dass ich begriff, wovon sie handelten. Diesmal war ich fest entschlossen, Ruth nicht so leicht davonkommen zu lassen, aber ich unternahm nichts Bestimmtes, sondern malte mir im Geist phantastische Szenen aus, wie ich sie bloßstellen und zu dem Geständnis zwingen würde, dass sie sich alles nur ausgedacht hatte. In einer verworrenen Phantasie erfuhr sogar Miss Geraldine selbst von der Sache und putzte Ruth vor versammelter Mannschaft gnadenlos herunter.
Tage später begann ich wieder klarer zu denken. Wenn das Federmäppchen nicht von Miss Geraldine stammte, woher sonst? Dass Ruth es von einer Mitschülerin erhalten hatte, war unwahrscheinlich: Selbst wenn es früher jemandem gehört hatte, der Jahre älter war als wir, wäre ein solches Prachtstück nicht unbemerkt geblieben. Niemals hätte Ruth es gewagt, diese Geschichte aufzutischen, wenn das Federmäppchen in Hailsham schon die Runde gemacht hatte. Sie musste es auf einem Basar entdeckt haben. Allerdings hätte auch in diesem Fall die Gefahr bestanden, dass schon andere ein Auge darauf werfen würden, bevor sie es kaufen konnte. Aber wenn sie, wie es trotz des Verbots gelegentlich vorkam, schon im Voraus davon erfahren und sich das Federmäppchen vor Verkaufsbeginn von einem Aufseher hatte reservieren lassen, dann konnte sie ziemlich sicher sein, dass es kaum jemand vor ihr gesehen hatte. Zu Ruths Pech wurden aber nicht nur alle verkauften Waren registriert, sondern auch die jeweiligen Käufer. Diese Listen waren zwar nicht ohne Weiteres einsehbar – die Aufseher brachten sie am Ende jedes Basartags in Miss Emilys Büro –, aber auch nicht streng geheim. Wenn man sich auf dem nächsten Basar in der Nähe eines Aufsehers herumtrieb, bot sich leicht einmal eine Gelegenheit, darin zu blättern.
Nachdem ich mir in groben Zügen einen Plan zurechtgelegt hatte, feilte ich tagelang daran herum, bis mir einfiel, dass es gar nicht notwendig war, sämtliche Schritte im Einzelnen auszuführen. Vorausgesetzt, ich hatte Recht mit meiner Vermutung, dass sie das Federmäppchen auf einem Basar erstanden hatte, genügte ja ein Bluff.
So kam es zu unserem Gespräch unter dem Vordach. Es war ein nebliger Tag mit Nieselregen. Wir beide waren unterwegs, vielleicht von den Schlafbungalows zum Pavillon, ich weiß es nicht mehr genau. Jedenfalls wurde der Regen auf einmal stärker, als wir den Hof durchquerten, und da wir es nicht eilig hatten, suchten wir unter dem Vordach des Haupthauses, nicht weit vom Vordereingang, Schutz.
Ab und zu tauchte aus dem Nebel ein Kollegiat auf und verschwand eilig im Haus, aber der Regen ließ nicht nach. Und je länger wir dort standen, desto mehr wuchs meine Anspannung, denn mir war klar, dass dies die Gelegenheit war, auf die ich gewartet hatte. Auch Ruth, das weiß ich, spürte, dass etwas im Anzug war. Schließlich beschloss ich, direkt zur Sache zu kommen.
„Auf dem Basar letzten Dienstag“, sagte ich, „hab ich ein bisschen im Buch geblättert. Du weißt schon, in dem Register.“
„Wieso hast du dir das Register angeschaut?“, fragte Ruth rasch. „Wozu denn?“
„Och, ohne besonderen Grund. Christopher C. war einer der Aufseher, und ich hab ein bisschen mit ihm geplaudert. Er ist eindeutig der coolste Junge in der Senior-Stufe. Und im Register hab ich einfach so geblättert, um meine Hände zu beschäftigen.“
Ruths Gedanken rasten, das sah ich ihr an, und nun begriff sie auch, worauf ich hinauswollte. Aber sie sagte ruhig: „Ziemlich langweilige Lektüre, stell ich mir vor.“
„Gar nicht, es war sogar recht interessant. Man sieht, was die Leute alles gekauft haben.“
Ich hatte die ganze Zeit teilnahmslos in den Regen hinausgestarrt, aber jetzt warf ich einen Blick zu Ruth hinüber. Und ich erschrak. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte; in all meinen Phantasien der vergangenen Monate hatte ich mich nie gefragt, wie es in einer realen Situation wäre, wie ich sie in diesem Moment erlebte.