Dieser Ort erschüttert Norwegen
Tysfjord versinkt in einem schockierenden Skandal. Kinder, Frauen und auch Männer wurden dort jahrzehntelang missbraucht. Warum erst jetzt alles ans Licht der Öffentlichkeit kommt
Tysfjord Eine Gemeinde am schneebedeckten Polarkreis macht weltweit Schlagzeilen und erschüttert Norwegen. Immer neue Details aus den Polizeiermittlungen und von Opfern dringen an die Öffentlichkeit – und das knapp 2000 Menschen zählende, zwei größere Dörfer und ein riesiges Umland umfassende lappländische Tysfjord wird zum Synonym für „Albtraum“.
Über Jahrzehnte hinweg wurden dort der Polizei zufolge Kinder, Frauen und auch einige Männer als weitgehend rechtlos angesehen und systematisch sexuell missbraucht. Es geht um mindestens 151 Fälle sexueller Gewalt, darunter 43 Vergewaltigungen. Bislang seien 82 Opfer im Alter zwischen vier und 75 Jahren sowie 92 Verdächtige identifi- erklärte die Kommissarin Tone Vangen. Vangen entschuldigte sich auch dafür, dass die Polizei lange völlig versagt habe. Erst nach einem Bericht der Zeitung
kurz aus dem Sommer 2016 – dessen Überschrift war „Ein dunkles Geheimnis“– ermittelte sie erstmals ernsthaft und engagiert. Zuvor hatte es viele Hinweise gegeben, auch Verurteilungen. Zu spät: Zwei Drittel der Fälle, die bis ins Jahr 1953 reichen, sind verjährt.
Vor allem die von der landesweit erscheinenden veröffentlichte Geschichte von Liv aus dem Dorf Drag, das zu Tysfjord gehört, schockiert die Norweger. Als Liv 14 war, zeigte ein Lehrer ihren Vater wegen sexuellen Missbrauchs an. Er musste für viereinhalb Jahre ins Gefängnis. Doch für Liv verschlechterte sich die Lage noch. Elf Männer aus dem Ort vergewaltigten das Mädchen danach regelmäßig, weil das Familienoberhaupt weg war. „Ich war auf einmal Freiwild. Ich bat zu Gott, er möge mir helfen, nun, wo Vater verurteilt wurde, aber es half nicht. Die Übergriffe wurden schlimmer. Die Erwachsenen wussten, was los ist, aber keiner griff ein“, sagte sie. Ein heute 20-Jähriger erzählte, dass er mit 13 von einer Frau missbraucht wurde. Sie kam für ein Jahr ins Gefängnis. Eine 75-Jährige berichtete, dass sie von einem Schamanen vergewaltigt worden sei, von dem sie sich eigentlich Hilfe erwartet hatte.
„Jahrzehntelang schwiegen Opfer und Unbeteiligte aus Angst vor Repressalien und aus Loyalität zur hier sehr eingeschworenen Gemeinde“, sagt Lars Magne Andreassen vom Kulturzentrum der mehrheitlich inziert, digenen samischen Bevölkerung Tysfjords unserer Zeitung. Die Samen gelten als strenggläubige Protestanten, zugleich spielt der Glaube an die magischen Fähigkeiten von Schamanen eine Rolle für sie. Ausgeprägt ist ihr Misstrauen gegenüber Polizei und sozialen Einrichtungen. Denn die Samen wurden einst vom Staat unterdrückt, „um uns zu anständigen christlichen Norwegern zu machen“, wie es Andreassen ausdrückt. „Das Misstrauen in den Staat sitzt bis heute tief in unserer Gegend.“
Das Ausmaß der Missbrauchsfälle erschüttert ihn zutiefst. „Es war schockierend zu hören, was die Polizei nun alles herausgefunden hat.“Er sei aber auch „stolz“darauf, dass immer mehr Opfer ihr Schweigen brechen. „Das ist hier viel schwieriger, als man annehmen könnte.“