Woher die Sehnsucht kommt
Der Begriff „Heimat“erlebt eine Renaissance. Wie kann man ihn im Alltag mit Leben füllen? Und warum ist Mundart wieder in? Peter Fassl ist ein Experte für diese Fragen
Herr Fassl, Sie sind Heimatpfleger für den Bezirk Schwaben. Warum erlebt der Begriff „Heimat“so eine starke Renaissance?
Peter Fassl: Dafür gibt es meines Erachtens mehrere Gründe. Beruflich, aber auch in der Freizeit ist der Mensch heute im Vergleich zu früher mit der ganzen Welt verbunden, die ganze Welt steht ihm offen. Wenn Sie zum Vergleich das Leben eines Menschen etwa um 1850 irgendwo auf dem Land anschauen, dann zeichnete sich das Leben damals durch eine viel stärkere Stabilität aus. Diese heutige Entgrenzung des Raumes, und zwar auf allen Ebenen, dass ich also sowohl beruflich wie privat überall auf dem Globus unterwegs sein kann, dort arbeiten, leben, Urlaub machen kann, weckt die Sehnsucht nach Stabilität.
Und das Internet sorgt zusätzlich für das Gefühl der Grenzenlosigkeit ... Fassl: Genau, das kommt noch dazu. Es hat sich ja eine eigene digitale Welt entwickelt. Nicht wenige Leute halten sich heute mehr in der digitalen als in der realen Welt auf, was diese Entgrenzung noch verstärkt. Und aus allem erwächst eine Sehnsucht nach Stabilität, Orientierung – oder nennen wir es Heimat.
Seit wann beobachten Sie diese Sehnsucht nach Heimat?
Fassl: Also in den 70er und 80er Jahren nahm man das Wort „Heimat“gar nicht mehr gerne in den Mund. Es gibt von Martin Walser das schöne Zitat, dass Heimat der liebevollste Begriff für Rückständigkeit ist. Der Heimatunterricht wurde damals beispielsweise vom Heimatund Sachkundeunterricht abgelöst. Weil man „Heimat“als ideologisch und provinziell ansah. Bereits in den 90er Jahren änderte sich das aber. Und heute wird bewusst nach Traditionen gesucht, nach Anbindungen.
Wie spüren Sie als Heimatpfleger diese Sehnsucht?
Fassl: Ich beobachte das in verschiedenen Bereichen. Sie brauchen auch nur in Ihre Zeitung zu schauen: Noch nie wurde so ausführlich beispielsweise über Weihnachtsbräuche berichtet. Auch die Anfragen hier im Bezirk Schwaben in diese Richtung häufen sich. So werde ich etwa immer öfter gefragt: Wo befindet sich das ursprüngliche, noch nicht entdeckte schwäbische Brauchtum?
Und – wo befindet es sich?
Fassl: Die Fragestellung ist schon falsch (lacht). Weil in diesem Fall mit dem Brauchtum die Vorstellung verbunden wird, es gebe etwas Unveränderliches, Starres. Aber alle Bräuche haben sich entwickelt, neue Elemente und viele Einflüsse aufgenommen. Bräuche sind etwas ganz Lebendiges. Daher ist es wichtiger zu fragen, wie sie sich entwickeln. Woran merken Sie noch, dass Heimat Hochkonjunktur hat?
Fassl: Ich sehe es beispielsweise an der Sorge, dass Mundart und Dialekt verschwinden. Es bilden sich auch Vereine, die sich dafür einsetzen, dass die Mundart erhalten bleibt. Ich werde mit Bedenken konfrontiert, dass durch die Globalisierung der Wirtschaft in den Betrieben ja nur noch Hochdeutsch gesprochen wird, weil die Belegschaft immer internationaler wird. Auf der anderen Seite beobachte ich, dass etwa in der Musikszene, in der modernen Volksmusik, die Mundart eine ungeheure Resonanz hat. Auch bei Kabarettisten wird die Mundart oft zum Markenzeichen. Hier ist eine neue Wertschätzung zu spüren. Diese Wertschätzung macht authentisch, individuell, echt. Man weiß ja heute, dass Mundart und Hochsprache keine Widersprüche sind, sondern sozusagen einen inneren Dialog eingehen, der Menschen fördert und bereichert.
Eine neue Wertschätzung erfährt ja auch die Tracht.
Fassl: Ja, das stimmt. Zum Beispiel haben die Berichterstatter beim jüngsten Oktoberfest festgestellt, dass Retro-Trachtenmode angesagt ist. Die Menschen haben sich also stärker an den traditionellen, alten Trachten orientiert. Wie sehr Heimat wieder an Bedeutung gewinnt, lässt sich im Übrigen auch an Fernsehsendungen wie „Dahoam is dahoam“sehen. Aber auch, wenn ich die moderne Literatur anschaue, ist Heimat ein Thema, das Schriftsteller aufgreifen, die dann sogar auf der Short- und Longlist auftauchen.
Gleichzeitig haben sicher viele Angst, dass mit der Zahl der Migranten Heimat verloren geht.
Fassl: Dabei ist es so spannend, wie diese Menschen mit Migrationshintergrund Heimat sehen. Was bedeutet für sie Heimat? Bringen sie bestimmte Speisen oder Musik mit? Und wie setzen sie sich mit ihrer neuen Situation auseinander? Denn auch Menschen mit Migrationshintergrund suchen Stabilität und Orientierung. Dies wiederum führt zu der Frage: Wie muss Identitätspolitik aussehen?
Wie müsste für Sie der Begriff Heimat im Alltag mit Leben erfüllt werden? Fassl: Zentral ist für mich, die Qualitäten, die unsere Region Bayerisch-Schwaben zu bieten hat, mit den über Schwaben hinausgehenden Beziehungen aufzuzeigen. Und es gilt nicht nur, diese hohe Qualität darzustellen. Vor allem muss ich Angebote machen, die zeigen, wo es Anknüpfungspunkte in die Gegenwart gibt. Diese Anschlussstellen sind entscheidend.
Welche Qualitäten meinen Sie?
Fassl: Klassische Beispiele sind die Denkmallandschaft, die Orts- und Stadtbilder, die hohen Kunstwerke etwa in Kirchen, die wunderschönen Kulturlandschaften mit Flüssen, Bergen, Seen. Aber auch die geistigen Qualitäten gehören dazu.
Was meinen Sie damit?
Fassl: Wenn ich Kirchenlandschaften sehe oder intakte Wallfahrten. Wenn ich Bräuche sehe, die mit Freude und Ernsthaftigkeit gepflegt werden, weil sie selbstverständlich zum Leben gehören. Auch die Musikkultur gehört zu den geistigen Qualitäten – Schwaben verfügt im Vergleich zu anderen bayerischen Landschaften über eine besonders hohe Dichte an Musikschulen.
Sind uns diese Qualitäten nicht ausreichend bewusst?
Fassl: Man pflegt sie, weil sie Freude bereiten. Dass sie aber eine Qualität sind, die uns gegenüber anderen Ländern auszeichnet, das sehe ich erst im Vergleich mit anderen Regionen. Nehmen Sie als Beispiel die für Bayern einzigartige Dichte an Theatervereinen und Amateurbühnen. Kein anderer bayerischer Regierungsbezirk hat so etwas. Das erkenne ich aber erst, wenn ich woanders bin.
Viele verbinden mit Heimat auch Kitschfilme und fürchten rechtsradikales Gedankengut ...
Fassl: Das ist gar nicht so selten. Wenn ich gefragt werde, was ich bin, und ich sage, ich bin Heimatpfleger, dann bin ich für viele unten durch. Da ergibt sich gar kein Gespräch mehr. Ich versuche es aber dennoch.
Fassl: Indem ich frage, wo der Einzelne lebt, was ihm da gefällt, was nicht. Und mit Blick auf die Schönheiten dieser Landschaft sage ich, dass diese Qualitäten es doch wert wären, Heimat zu werden. Denn Heimat ist nicht etwas, was man hat, sondern etwas, was man sich erarbeiten muss. Sehen Sie, es gibt einen Grundsatz, der ist zwar sehr alt, aber gültig: Ich kann nur dort etwas bewahren, pflegen, weiterentwickeln, wo ich mir ein Wissen und über dieses Wissen eine Wertschätzung erarbeitet habe. Daher ist das Hinführen an die Dinge so notwendig. Peter Fassl, 62, ist seit 30 Jahren Heimatpfleger im Bezirk Schwa ben. Der promo vierte Historiker und Diplom Theo loge ist verhei ratet und Vater von drei Kindern.