Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (63)
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
Darauf saßen Ruth und ich, um nach dem Aufstieg zu verschnaufen, und betrachteten die Spinnweben an den schrägen Dachbalken über uns und den Sommerabend draußen. Dann sagte ich:
„Weißt du, Ruth, wir sollten doch mal über das reden, was neulich passiert ist, findest du nicht?“
Ich war sehr auf einen versöhnlichen Ton bedacht, und Ruth sprang darauf an. Sie sagte sofort, ja, es sei wirklich bescheuert, dass wir drei uns über den größten Unsinn stritten. Sie erinnerte an frühere Auseinandersetzungen zwischen uns, und wir lachten ein wenig darüber. Aber ich wollte nicht, dass Ruth die Sache einfach so auf sich beruhen ließ, und so sagte ich, immer noch so wenig provozierend wie möglich:
„Ruth, weißt du, ich glaube, wenn man in einer Beziehung lebt, sieht man die Dinge manchmal nicht so klar wie ein Außenstehender. Natürlich nicht immer – nur manchmal.“
Sie nickte. „Das stimmt wohl.“
„Ich möchte mich wirklich nicht einmischen. Aber manchmal, erst jetzt in der letzten Zeit, denke ich, dass Tommy ziemlich durcheinander ist. Du weißt schon. Wegen bestimmter Dinge, die du gesagt oder getan hast.“Ich fürchtete, Ruth könnte wütend werden, aber sie nickte erneut und seufzte. „Ich glaube, du hast Recht“, sagte sie schließlich. „Ich habe auch schon oft darüber nachgedacht.“
„Dann hätte ich es vielleicht gar nicht ansprechen sollen. Ich hätte wissen müssen, dass du selbst merkst, was los ist. Und es geht mich ja auch gar nichts an.“
„Doch, doch, Kathy. Du gehörst zu uns, also geht es immer auch dich etwas an. Du hast Recht, es lief nicht so gut in der letzten Zeit. Ich weiß, was du meinst. Diese Sache neulich, mit seinen Tieren. Das war nicht gut. Ich hab ihm schon gesagt, dass es mir Leid tut.“
„Ich bin froh, dass ihr darüber gesprochen habt. Das wusste ich nicht.“
Ruth hatte schon eine Weile an den morschen Holzspänen der Bank gezogen und gezupft und schien jetzt vollkommen davon in Anspruch genommen zu sein. Dann sagte sie:
„Schau, Kathy, es ist gut, dass wir jetzt über Tommy reden. Schon seit einer ganzen Zeit will ich dir was sagen, aber ich wusste nie, wann oder wie ich’s anfangen soll. Kathy, versprich mir, dass du mir nicht böse bist.“
„Solang es nicht wieder um diese T-Shirts geht“, erwiderte ich.
„Nein, im Ernst. Versprich, dass du mir nicht böse bist. Denn ich muss es dir sagen. Ich könnte es mir nicht verzeihen, noch länger zu schweigen.“
„Na gut, worum geht’s?“„Kathy, ich hab schon eine ganze Weile darüber nachgedacht. Du bist ja nicht auf den Kopf gefallen und kannst sehen, dass Tommy und ich vielleicht nicht für immer ein Paar sein werden. Das ist kein Drama. Eine Zeit lang waren wir wie füreinander geschaffen. Ob das so bleibt, steht in den Sternen. Und jetzt ist dauernd die Rede davon, dass Paare einen Aufschub erhalten, du weißt schon, wenn sie beweisen können, dass sie wirklich zusammenpassen. Also, was ich sagen will, ist Folgendes: Weißt du, es wäre absolut natürlich, wenn du dir Gedanken machst, was wäre, wenn Tommy und ich beschließen sollten, uns zu trennen. Wir haben es nicht vor, versteh mich nicht falsch. Aber ich glaube, es wäre vollkommen normal, wenn du das für möglich halten würdest. Dabei musst du eines wissen, Kathy, nämlich dass Tommy dich nicht so sieht. Er mag dich wirklich sehr gern und hält sehr große Stücke auf dich. Aber ich weiß, dass er dich nicht als Freundin in dem Sinn sieht. Außerdem…“, Ruth stockte, dann seufzte sie. „Außerdem weißt du ja, wie Tommy ist. Er kann ganz schön pedantisch sein.“Ich starrte sie an. „Was meinst du damit?“
„Das weißt du doch. Tommy mag keine Mädchen, die mit… na ja, du weißt schon, die mit diesem und jenem zusammen gewesen sind. Es ist einfach eine Macke von ihm. Tut mir Leid, Kathy, aber es wäre nicht richtig, wenn ich dir das verschweige.“Ich dachte darüber nach, dann sagte ich: „Es ist immer gut, Bescheid zu wissen.“
Ich spürte ihre Hand auf meinem Arm. „Ich wusste, dass du mich richtig verstehst. Vergiss dabei aber nicht, dass er ungeheuer viel von dir hält. Das tut er wirklich.“Ich hätte gern das Thema gewechselt, aber in mir war alles leer. Das entging Ruth offenbar nicht, denn sie reckte sich und sagte mit einer Art Gähnen:
„Sollte ich je Auto fahren lernen, würde ich gern einen gemeinsamen Ausflug in irgendeine wilde Gegend machen. Nach Dartmoor zum Beispiel. Wir drei und vielleicht auch Laura und Hannah. Die Sümpfe und das alles, das würde ich wahnsinnig gern sehen.“
Während der nächsten Minuten redeten wir darüber, was wir bei solch einem Ausflug alles unternehmen würden. Ich fragte, wo wir übernachten würden, und Ruth meinte, wir könnten uns ein großes Zelt leihen. Worauf ich einwandte, im Moor gebe es oft heftige Stürme, die unser Zelt nachts ohne weiteres fortblasen könnten. Das war alles nicht besonders tief schürfend. Aber aus irgendeinem Grund fiel mir in diesem Zusammenhang ein Picknick mit Miss Geraldine wieder ein, das wir am Teich in Hailsham veranstaltet hatten, als wir noch Junioren gewesen waren.
James B. sollte aus dem Hauptgebäude den Kuchen holen, den wir gemeinsam gebacken hatten, und als er ihn zurückbrachte, hob eine Windböe die oberste Biskuitschicht ab und setzte sie zwischen den Rhabarberblättern ab. Ruth konnte sich nur noch dunkel daran erinnern, und um ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, sagte ich:
„Er bekam deswegen Ärger, weil das der Beweis war, dass er durch das Rhabarberbeet gelaufen war.“Woraufhin Ruth mich ansah und fragte: „Wieso? Was war so schlimm dran?“Es war einfach die Art, wie sie es sagte – es klang auf einmal so unecht, dass sogar ein Außenstehender, wäre einer dabei gewesen, es durchschaut hätte. Ich seufzte entnervt auf und sagte:
„Ruth, das glaubst du doch selber nicht. Das kannst du nicht vergessen haben. Du weißt, dass das Rhabarberbeet nicht betreten werden durfte.“
Mag sein, dass mein Tonfall ein bisschen scharf war. Jedenfalls dachte Ruth nicht daran, nachzugeben, sondern tat weiter so, als erinnerte sie sich an nichts, und ich ärgerte mich immer mehr. Schließlich sagte sie:
„Es ist doch sowieso egal. Wen interessiert denn dieses Rhabarberbeet? Sag doch einfach, was du sagen wolltest, und Schluss.“
Unser weiteres Gespräch verlief dann wieder in mehr oder minder freundschaftlichem Ton, glaube ich, aber die Stimmung war dahin. Bald machten wir uns auf den Rückweg zu den Cottages, gingen im Dämmerlicht den Pfad hinunter, und als wir uns vor der Schwarzen Scheune Gute Nacht sagten, trennten wir uns ohne unsere üblichen kleinen Berührungen an Schultern und Armen. »64. Fortsetzung folgt