Tu dir leid!
Selbstmitleid ist verpönt. Zu Recht, oder? Nicht nur, weil der Indianer keinen Schmerz kennt, sondern weil man fürchten muss, ein abstoßendes Bild abzugeben: Ein weinerliches Weichei, das immer nur auf andere zeigt, die ihm die Butter vom Brot geklaut haben. „Heul doch!“, möchte man sagen und sich abwenden. Deshalb verbieten sich viele Selbstmitleid. Und damit nicht genug: Sicherheitshalber geben sie ihrem „Selbst“noch ein paar drauf: „Du hast dein Plansoll nicht erfüllt! Du hast deine To-doListe nicht geschafft, aber deine Tageskalorien doppelt verfuttert! Schäm dich!“
Die Anklage sitzt. Aber wer verteidigt? Gesundes Selbstmitleid ist angesagt! Nicht ein klebriges, das nur das Bedauern anderer einheimsen möchte, sondern ein SelbstMitgefühl, das mit echtem Interesse beginnt: „Wie geht es mir? Was tut weh – im Rücken, im Knie oder in der Seele?“Es geht um die Frage, an welcher Pflicht und an welchen Menschen ich mich wundgerieben habe. Vielleicht braucht mein Körper heute meine Erlaubnis, krank zu sein oder müde, oder einfach langsamer laufen zu dürfen. Gesundes Selbstmitleid schaut auf die letzten Tage und will anerkennen, was gelungen ist und wofür ich Respekt und ein Lob verdient habe (von mir zuallererst!). Ja, heilsames Selbstmitleid kann sogar dazu führen, dass ich Kräfte und meinen Stolz neu entdecke. So kann es frei davon machen, ständig nur auf Rückzug und Schonung bedacht zu sein.
Ein Mensch, der liebevoll bei sich selbst ist und liebevoll mit sich selbst umgeht, der um seine Grenzen weiß und Frieden mit ihnen hat – der ist eine Wohltat, ja ein Segen für alle in seiner Umgebung. Man spürt es sofort: Während Egoisten immer etwas Drohendes an sich haben, sind solche Menschen wie eine Einladung zum Aufatmen.
Und eine weitere geheimnisvolle Wirkung hat gesundes Selbstmitleid: Es trifft in der Tiefe auf einen großen Strom des Mitleids, den Ur-Strom liebevollen Mitfühlens, der von Gott kommt und zu Gott führt und alles umfasst: Mich und dich und jede Seele.