Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (59)
Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbruder nennt. Er kommt aus dem Schlamassel, aus seinen Verhältnissen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomisch.
Mit dem Auftrag auf dreihunderttausend, das stimmt, das geht in Ordnung. Erst wie wir ihn dann so angebettelt haben wegen der Adresse, da ist er auf die Idee gekommen, uns reinzulegen.“
„Das kann stimmen“, pflichtet Kufalt bei. „Vielleicht reist er selber auf die Tour mit dem großen Auftrag?“
„Aber er kann ihn doch nicht allein machen.“
„Wer weiß, mit wem er die Sache schieben will?“
„Wer will die Sache schieben?!!“sagt direkt zwischen ihnen Jauchs böse Stimme. Die vier, in ihrem Farbbandeifer, sie haben nicht die plötzliche tiefe, nebengeräuschfreie, arbeitsam schmetternde Stille der Schreibstube beachtet, auch nicht das warnende Räuspern Sagers.
Jauch steht unter ihnen, rot angelaufen, beinahe zitternd vor Wut. „Hier wird wohl ein Verbrechen verabredet, ja, meine Herren? Hier reißen ja Zustände ein. Zustände …“
Er steigert sich zum Schreien. Die
Tür zum Nebenzimmer öffnet sich, die Köpfe der beiden nicht vorbestraften Mitarbeiterinnen erscheinen, die größere, die Zibbe, sagt: „Nicht so laut, Herr Jauch. Es sitzt doch Kundschaft in der Diktatstube.“
Und sie schauen ungeniert weiter der Szene zu.
„Wir haben“, sagt Maack, „über Herrn Patzig gesprochen, wie der das wohl geschoben hat –: die Aushilfsstelle im Export sollte ich doch kriegen. Wegen Verbrechen und so aber werde ich mich bei Herrn Pastor Marcetus beschweren.“
Maack ergreift sein Farbband und geht ruhevoll an seinen Platz.
„Ich dito!“sagt Jänsch. „So was haben Sie überhaupt nicht zu sagen, in Gegenwart von denen…“
Kopfbewegung zur Tür mit den Mädchen, und mit einem Farbband geht auch er.
„Ich werde Strafantrag gegen Sie stellen, Herr Jauch“, sagt Deutschmann empört und verschwindet an seinen Platz.
„Meine Herren…“sagt Jauch atemlos, hilflos. Die ganze Schreibstube glotzt auf ihn. Kufalt will sich wortlos drücken.
„Das ist alles, seit Sie hier sind, Herr Kufalt“, brüllt Jauch in einem neuen Wutanfall. „Halt! Kommen Sie mit! Kommen Sie mit auf mein Zimmer.“
„Laß dir nichts gefallen von dem, Willi“, flüstert Maack ziemlich deutlich.
Und Kufalt verloren, zerfallen – ,warum habe ausgerechnet ich immer das Pech?‘, und Kufalt zottelt brav hinter Jauch in seine Stube, deren Tür er hinter dem Schreibstubenvorsteher höflich schließt.
Aber noch kommt nicht der gefürchtete Ausbruch. Jauch zwar rennt auf und ab wie ein Stier, der stoßen möchte. Aber schon geht er langsamer, hebt den Kopf, betrachtet einmal die Gestalt an der Tür, geht weiter, nimmt ein Blatt vom Schreibtisch.
Und schließlich stellt er sich ans Fenster und sagt – zum Fenster, nicht zu Kufalt: „Bankier Hoppensaß bekommt viele Bettelbriefe von Vorbestraften. Das hat sich herumgesprochen, daß es sein Steckenpferd ist, Vorbestraften zu helfen, ja.“
Er macht eine lange Pause, Kufalt wartet.
„Bankier Hoppensaß“, sagt Herr Schreibstubenvorsteher Jauch, nicht mehr zum Fenster, sondern mehr gegen die Schreibtischlampe hin, „Bankier Hoppensaß hat eine Idee gehabt, über die ich mir kein Urteil erlaube. Er will jetzt die Recherchen, ob die sich an ihn wendenden Strafentlassenen würdig oder unwürdig sind, durch einen Strafentlassenen machen lassen. Er meint, der wüßte am ersten Bescheid. Ja.“
Kufalt hält den nachdenklich betrübten Blick der bösen Schweinsäuglein drüben aus. ,Wär ein herrlicher Posten für mich‘, ist sein erster Gedanke. ,Krieg ich doch nie. Mit Speck fängt man Mäuse‘, sein zweiter.
„Wir wollten ihm also jemand Vertrauenswürdiges empfehlen, ja, Herr Kufalt?“
Stille.
Lange Stille.
Dann sagt Kufalt, schluckend, aber mit wilder Entschlossenheit: „Wir haben wirklich nur darüber gesprochen, warum Patzig den Aushilfsposten im Export bekommen hat. Patzig schreibt kaum besser als ich.“
„So“, sagt Herr Jauch. „Ihre Ansicht“; sagt Herr Jauch böse. „Ich will Ihnen was sagen“, setzt Jauch an, kommt aber nicht zu dem, was er Kufalt zu sagen hat, denn das Telephon klingelt.
„Schreibstube Presto. Ja, Herr Jauch ist selber am Apparat. Wie? Wir müssen endlich zum Abschluß kommen? Ich soll mich entscheiden? Aber natürlich! Elf Mark ist schon sehr niedrig. Nur weil es dreihunderttausend sind, sonst immer zwölf. Ihr Adressenmaterial schreibt sich glatt runter? Ja, da müßte ich doch Ihr Adressenmaterial erst mal sehen. Schön, schön, wenn es sehr gut ist, vielleicht noch eine halbe Mark weniger, ich würde dann sofort mit Herrn Pastor Marcetus sprechen. Nein, nein, Sie bekämen heute nachmittag endgültige Nachricht. Na also, ich komme dann sofort, in einer Viertelstunde bin ich bei Ihnen.“Jauch hängt den Hörer an. Er hat Kufalt ganz vergessen. Jetzt entdeckt er ihn neben der Tür, aufmerksam die Rückentitel von Nienkammers Güteradreßbuch studierend.
„Ich habe jetzt keine Zeit für Sie“, sagt er mürrisch. „Ich muß sofort weg. Wir sprechen uns aber nachher.“
„Darf ich noch um etwas bitten?“fragt Kufalt und ist von einer ungewohnt schmeichlerischen Demut. „Ich habe so wahnsinnige Zahnschmerzen. Darf ich nicht mal gleich zum Zahnarzt?“
„Ich kann Ihnen jetzt keinen Schein fürs Wohlfahrtsamt ausschreiben“, erklärt Jauch. „Heute mittag.“
„Ich geh’ von meinem Geld, Herr Jauch. Ich will Ihnen doch keine Scherereien machen.“Und ängstlich: „Zahnziehen kostet doch sicher nicht mehr als anderthalb Mark?“„Ich muß weg“, sagt Jauch. „Ich mach’ auch ganz schnell“, erklärt Kufalt. „Ich halt’s wirklich nicht mehr aus.“
„Also meinethalben“, sagt Jauch und rennt aus seinem Zimmer.
Kufalt huscht wie ein Wiesel durch die Schreibstube, im Vorbeilaufen flüstert er Maack zu: „Hat doch nicht gelogen, der Patzig“, und ist schon aus der Tür –: sicher hat Maack sein hastiges Flüstern gar nicht verstanden. Mantel und Hut – was das alles dauert! Jauchs Schritt ist schon nicht mehr auf der Treppe zu hören, ach, alles kommt darauf an, daß Jauch nicht fährt, daß er zu Fuß geht. Kufalt kann nicht fahren, er kennt seinen Kassenbestand in der Tasche genau: ein Groschen gleich drei Juno. (,Lieber nicht mehr mitnehmen, man kommt doch nur in Versuchung, es auszugeben.‘)
Straße. Blick nach rechts, Blick nach links: kein Hauch mehr. Unschlüssig stehen hilft nichts, nach dem Stadtinnern zu?