Glücksmomente
Titel-Thema Es heißt doch immer, die großen Dinge sind die Sahnehäubchen im Leben: Hochschulreife, Hochzeit, Hausbau. Wahres Glück. Stimmt das gar nicht? Über den Wert des Alltags und eine vom Schicksal geprüfte Frau, die sagt: Ich kenne niemanden, der gl
Augsburg Wie kann ich jemals wieder glücklich werden? Gisela Steinhaus hat sich diese Frage oft gestellt. Jedes Mal, wenn ein neuer Schicksalsschlag die Augsburgerin traf. Und dann war da noch die andere Frage: Warum trifft das Unglück immer mich?
Wer der Frau heute begegnet, ahnt nichts von all den schmerzlichen Erfahrungen. Voller Elan schwingt sie die Haustür auf und nimmt den Besuch mit einem strahlenden Lächeln in Empfang.
Gisela Steinhaus ist in diesem Jahr 70 geworden. Das sieht man ihr nicht an. Sie hat einen modernen Kurzhaarschnitt und trägt ein sportliches Oberteil mit Strass-Applikationen. Sie hält sich mit Aquafitness und Wirbelsäulengymnastik fit, arbeitet in Teilzeit als Speditionskauffrau, lädt gerne zu Grillpartys ein und wohnt mit einer knapp 40 Jahre jüngeren Frau zusammen. Die geschminkten Lippen harmonieren mit den rot lackierten Nägeln.
Gisela Steinhaus nimmt im Wintergarten Platz, vor ihr eine Tasse Kaffee auf einem Spitzendeckchen. Bevor sie beginnt, von ihren Schicksalsschlägen zu erzählen, sagt sie: „Ich kenne keinen Menschen, der glücklicher ist als ich.“
Mit 17 wird sie schwanger. Sie heiratet den Vater des Kindes. Es ist keine glückliche Ehe. Der Mann ist jähzornig, eifersüchtig, er schlägt sie und sein Kind. Die zweite Tochter, die inzwischen zur Welt gekommen ist, lässt er in Ruhe. Mit 27 reicht die Mutter die Scheidung ein. Er droht, sie umzubringen – und wirft sich selbst vor einen Zug. Die Familie von Gisela Steinhaus gibt ihr die Schuld für den Suizid. Die nun alleinerziehende Mutter fühlt sich im Stich gelassen.
Vier Jahre später bekommt Gisela Steinhaus ein Todesurteil: Sie hat Krebs, im Endstadium. Die Ärzte geben der damals 31-Jährigen nur noch wenige Monate. Sie unterzieht sich einer schweren Operation. Sie kämpft. Stirbt sie, sind ihre Töchter Vollwaisen. „Die Option zu sterben, gab es für mich nicht“, sagt die Mama heute. Sie besiegt den Krebs. Mit Mitte 30 hat sie mehr Schicksalsschläge durchlitten als andere in ihrem ganzen Leben. Es werden nicht die letzten gewesen sein.
Tiefschläge gehören zum Leben. Das weiß auch der österreichische Glücksforscher Anton Bucher. In seinem Büro an der theologischen Fakultät der Universität Salzburg stapeln sich die Bücher auf einem schlichten Holztisch. In seinem eigenen Buch „Glück des Traurigseins“steht: „Es gehört zum Leben dazu, dass man mal traurig ist.“Immer glücklich zu sein – das sei nicht nur unmöglich, sondern gar nicht erstrebenswert. Es brauche die „Kontrasterfahrung“, also unglückliche Zeiten, um wieder für das Glück empfänglich zu sein. Daher sagt der Wissenschaftler: „Menschen mit Schicksalsschlägen sind glücklichere Menschen als die Menschen, die konstant Glück erfahren haben.“
Glück. Es ist so vielschichtig wie die Fasern eines Kleeblatts, ungreifbar wie ein Regenbogen. Glück ist subjektiv. Es gibt Menschen, die würden sich nie als glücklich bezeichnen, eher als zufrieden. Andere streben ganz gezielt nach „Glück“. Nach großen Momenten. Wenn das Haus gebaut, das Studium absolviert, das Rentenalter erreicht ist – das ist für sie Glück. Doch Bucher warnt: „Wenn das Ziel erreicht ist, hält das Glück meist nur kurz.“Nach dem Hausbau entdeckt der Besitzer Risse im Parkett, nach dem Studium sucht man einen Job, nach dem Renteneintritt fehlt eine sinnstiftende Tätigkeit. Das Glück, so die Folgerung, liegt nicht immer hinter einer Zielgeraden, sondern am Straßenrand.
Oder am Augsburger Hauptbahnhof. In zwanzig Minuten fährt der ICE Richtung Berlin ein. Eine blonde Frau mittleren Alters sitzt zusammengekauert auf einer Holzbank, den grauen Schal tief ins Gesicht gezogen. Ihre Hände umklammern einen Kaffeebecher. Neben ihr: ein junger Mann, schwarze Jacke, schwarze Hose, schwarzer Koffer. Er starrt geradeaus. Grauer Himmel, zwei Grad.
Ob die Wartenden glücklich sind? Sieht man Menschen Glück an?
Zwei Fahrgäste unterhalten sich angeregt, grinsen sich unentwegt an. Sehen so glückliche Menschen aus? Bei dieser Frage lachen die beiden noch mehr. Jenny Hoh und Martin Weindl aus Augsburg. Sie 36, brünett, Brille, nachtblauer Mantel. Er 52, graue kurze Haare, schwarze Jacke. Die beiden sind für die Deutsche Rentenversicherung auf Dienstreise, das machen sie nicht so oft, sagt Hoh. Es geht für vier Tage nach Lübeck, eine schöne Abwechslung. Und die Kälte trübt die Stimmung nicht? „Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung, oder wie war das?“, sagt Weindl und lächelt.
Glücklich ob einer Dienstreise? Nicht nur, sagt er, glücklich mache ihn „auch die Aussicht, dass ich danach Urlaub habe“. Seine Frau komme nach, dann wollen sie sich gemeinsam Lübeck und Hamburg anschauen. Wobei: „Beim Sechser im Lotto däd i no mehr lachen.“
Aber macht Geld glücklich? „Nur bedingt“, sagt Professor Bucher: „Ob man 3000 oder 10 000 Euro verdient, wirkt sich nicht auf unser Glücksempfinden aus.“Was dann?
An oberster Stelle stehen Familie, Freunde, glückliche Paarbeziehungen. Die Arbeit kann ebenso glückoftmals lich machen, vorausgesetzt, man sieht einen Sinn darin. Da ist es egal, ob man an der Supermarkt-Kasse sitzt oder als Manager den gleichen Supermarkt leitet. „Jede Arbeit kann glücklich machen“, sagt Bucher.
Gudrun Gutierrez denkt als erstes an Begegnungen mit Menschen, Gespräche mit Kollegen, fragt man sie, was sie glücklich macht. Auch wenn an ihrem Arbeitsplatz in einer Augsburger Buchhandlung die meisten Menschen erst mal allein vor sich hinstöbern, bevor sie zu der 51-Jährigen an die Kasse kommen. So wie der ältere Herr mit Brille, Schiebermütze und Ohrenschützern, dessen Blick gerade an einem der langen Bücherregale entlangwandert. Bis er fündig wird und in Richtung Gutierrez schlendert. „Wenn man ein Buch kauft, muss man Zeit dafür haben“, findet die Frau. Und sich sagen: „Ich tue jetzt nichts anderes.“Das trage zur Ausgeglichenheit bei. Und „wenn man ausgeglichen ist, ist man glücklich“.
Funktioniert das auch im Fitnessstudio? Gerhard Reischle, grauer Schnauzer, trägt eine schwarze Hose mit der Aufschrift „seventy sixx“. Tatsächlich ist er schon 79. Reischle steht vor einem Spiegel, in beiden Händen eine Drei-Kilo-Hantel, und macht kreisende Armbewegungen. Ob ihn Sport glücklich macht? „Ja“, sagt er, ohne zu überlegen, und lächelt. „Das fängt schon Zuhause an. Da freue ich mich, dass es hierher geht.“Er verspüre dann eine gewisse Genugtuung, dass das in seinem Alter noch möglich ist. Und schon plaudert er, erzählt, dass er im Sommer Leichtathletik macht. Klasse M 80. Er sieht gute Chancen, bei den Wettkämpfen so abzuschneiden, dass er auf der deutschen Rangliste wieder weit vorne landet. „Meine Spezialität ist Hochsprung.“
Früher, sagt er, als er noch im Außendienst tätig war, habe er immer Sportsachen im Auto gehabt und gewusst, wo es Sportplätze oder einen Wald gibt. Um halb fünf, nach der Arbeit, wenn die Kollegen schon beim ersten Bier im Hotel saßen, ging er lieber Laufen. Und danach zum Duschen ins Hotel und gemütlich zum Abendessen. „Das war für mich ein Glücksgefühl“, sagt Reischle. Das Gefühl, etwas geschafft zu haben.
Das Gefühl ist ihm geblieben. „Glück ist etwas sehr Aktives“, sagt Forscher Anton Bucher. Aber das muss nicht immer Sport sein. Glück, so seine Erkenntnis, finden Menschen, die in ihrem Handeln etwas erschaffen. Oder wie Bucher es ausdrückt: „Es gibt wenig, was einen glücklicher machen kann, als an einem Tisch zu sitzen, den man selbst gezimmert hat.“
Womöglich ist das ja der entscheidende Punkt. Dass Glück für jeden etwas anderes bedeutet. Und sich die Vorstellung davon im Laufe eines Lebens ständig ändert.
Aus einer großen Studie mit mehr als 100 000 befragten Personen weiß Professor Bucher beispielsweise: „Kindheit ist ein hohes Glück.“Doch schon kurz darauf, in der Jugend, folge die unglücklichste Zeit. „Das ist eine Phase, die mit sehr viel Unsicherheit verbunden ist“, erklärt der Glücksforscher.
Ist die Jugend überwunden, steigt bei den meisten Menschen die Glückskurve wieder an. Im jungen Erwachsenenalter tut sich viel: Studium, die erste große Liebe, Familienplanung. Die Geburt eines Kindes ist zwar für Paare ein glückliches Ereignis. Doch: „Die Sorge um die Kinder macht viele Eltern unglücklich“, sagt Bucher. Ein Tiefpunkt sei die Jugend des Kindes. „Die meisten Eltern sind froh, wenn die Kinder das Haus verlassen“, resümiert Bucher. Das trifft auch mit einem Anstieg der Glückskurve mit Mitte 40, Anfang 50 zusammen. Im Leben von Gisela Steinhaus, der Augsburgerin mit den unfassbar vielen Tiefschlägen, sind die Jahre zwischen 50 und 60 die schönsten. Sie wohnt mit ihrem Lebensgefährten Martin zusammen und ist beruflich auf dem Höhepunkt. Dann holt sie das Schicksal wieder ein. Martin erkrankt an Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Die Überlebenschancen sind gering. Immer und immer wieder spricht sie ihm gut zu: Wenn sie den Krebs besiegt hat, dann schafft er es vielleicht auch. Doch er schafft es nicht. Martin stirbt in ihren Armen. Einen Tag vor ihrem 60. Geburtstag bestattet Gisela Steinhaus ihren sieben Jahre jüngeren Lebensgefährten.
„Was muss ich noch ertragen?“, fragt sie sich. Sie ist verzweifelt. „Jeder Schicksalsschlag ist auf seine eigene Art schlimm. Martins Tod hat mich emotional am meisten mitgenommen.“
Zehn Jahre ist das nun her. Heute sagt Gisela Steinhaus, dass sie wieder zu ihrem Glück gefunden hat. Ihr Blick auf das Leben habe sich gewandelt. „Aus jedem Schicksalsschlag, den ich erlebt habe, konnte ich etwas Positives ziehen.“Jeder einzelne habe sie stärker, widerstandsfähiger gemacht.
In der Wissenschaft nennt man das Resilienz. Menschen können eine starke Widerstandskraft entwickeln, sagt Professor Bucher. „Das ist wie bei Weizenähren: Kommt Wind, beugen sie sich, doch sie bewegen sich von allein wieder nach oben.“Glück gehe also nicht unwiederbringlich verloren. Man muss nur seinen eigenen Blick verändern, sagt Gisela Steinhaus: „Das Leben ist schön, weil man selbst in dunkelsten Stunden weiß, dass man wieder glücklich werden kann.“
Immer glücklich zu sein, ist gar nicht gut