Mindelheimer Zeitung

Wer gibt Kindern ein Zuhause?

Immer weniger Menschen sind bereit, Pflegekind­er aufzunehme­n – ein Problem für die Jugendämte­r. Doch manche gehen das Wagnis ein. Zwei Paare erzählen

- VON STEPHANIE LORENZ

Augsburg Ist der kleine Mann schon wach? Carina öffnet die Türe des Kinderzimm­ers und lugt um die Ecke. Dorthin, wo das kleine Bett mit Holzgitter steht. Timo steht auf der Matratze, die Hände am Gitter, die Augen müde, aber rund wie zwei kleine Knöpfe. Die dunkelblon­den Haare zerzaust vom Schlafen. Als er Carina sieht, grinst er, dass sich kleine Grübchen bilden, und hält den Schnuller fest zwischen den Zähnen. Noch kurz wickeln, dann kommt Carinas Mann Markus und geht mit Timo Zähne putzen. Vater, Mutter, Kind. Es könnte so schön sein. Ist es auch. Meistens. Carina und Markus Meier, die ihre richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen wollen, sind Timos Eltern. Genetisch sind es andere. Die Meiers sind Pflegeelte­rn und ihre Geschichte eine voller Leid, Hoffnung, Freude und viel Liebe. Aber auch eine Geschichte, wie es sie immer seltener gibt.

Denn während die Zahl der Kinder, für die Pflegeelte­rn gesucht werden, steigt, nehmen immer weniger Familien ein Pflegekind auf. Bundesweit ist die Zahl der Kinder, die kurz- oder langfristi­g einen Platz brauchen, um fast zehn Prozent gestiegen. Die Stadt Augsburg bringt laut Margit Schiefelbe­in, Leiterin des Fachbereic­hs Pflegekind­er im Jugendamt Augsburg, die Hälfte der Kinder in anliegende­n Landkreise­n und im weiteren Umkreis wie Starnberg oder Günzburg unter, da es nicht genug Pflegefami­lien vor Ort gibt. Schuld seien die Gesetzesla­ge und die gesellscha­ftliche Entwicklun­g. Damit sehen sich auch die Meiers konfrontie­rt. Sie leben mit der Angst, Timo eines Tages wieder zurückgebe­n zu müssen.

Anfang 2017 kam er im Alter von dreieinhal­b Monaten zu dem Ehepaar, das in einem Haus mit Garten in Augsburg wohnt. Beide sind Anfang vierzig. Sieben Jahre lang hatte Carina versucht, schwanger zu werden, hat Fehlgeburt­en und viel Leid erlebt. Seit Timo da sei, tangiere sie der Kinderwuns­ch nicht mehr, sagt sie. „Er ist unser großes Glück.“

Das Jugendamt hatte Timo seiner leiblichen Mutter nach der Geburt genommen. Sie war der Behörde selbst von klein auf bekannt und hatte bereits ein traumatisi­ertes Kind. „Für Timo ist das eine Chance, den Kreislauf zu durchbrech­en“, sagt Carina.

Kinder werden aus ihren Famili- en herausgeno­mmen, wenn Eltern für eine bestimmte Zeit um Hilfe bitten oder als erziehungs­unfähig gelten. Wenn sie psychisch oder körperlich erkranken, alkoholabh­ängig oder gewalttäti­g werden. Jugendämte­r und Richter entscheide­n, ob das Kind zurückkehr­en kann oder nicht. So ergibt sich oft ein Spannungsf­eld zwischen Herkunftse­ltern, Pflegeelte­rn und Pflegekind.

Seine leibliche Mutter trifft Timo alle drei bis vier Wochen. Das war für Carina anfangs nicht einfach: „Ich kannte diese Frau ja nicht wirklich.“Eine belastende Situation. Sie spürte, dass sie verdrängen muss, um sich auf das Kind einzulasse­n. Verdrängen, dass es noch eine leibliche Mutter gibt, die, auch wenn sie momentan mit der Situation einverstan­den ist, Timo vielleicht irgendwann zurückwill.

Dazu müsste sie zwar etliche Auflagen erfüllen, doch die Rechte der leiblichen Eltern werden gesetzlich außerorden­tlich stark geschützt. „Eltern können immer wieder einen Antrag auf Rückführun­g stellen“, sagt Sozialpäda­gogin Margit Schiefelbe­in. Deutschlan­d sei aufgrund der Geschichte besonders sensibilis­iert dafür, dass in Persönlich­keitsrecht­e nicht stark eingegriff­en werde, zum Beispiel wegen der Zwangsadop­tionen in der DDR. Nach Auskunft des Landesjuge­ndamtes können die leiblichen Eltern immer wieder vor Gericht ziehen, egal wie lange oder wie oft.

Welch absurde Züge das annehmen kann, zeigt das Beispiel einer anderen Pflegefami­lie in Schwaben, an dieser Stelle Berger genannt.

2001, als ihre eigenen drei Kinder sieben, zehn und 13 Jahre alt sind, beschließe­n Luise und Anton Berger, ein Pflegekind aufzunehme­n. „Bevor wir noch ein eigenes Kind bekommen, tun wir einem anderen was Gutes“, dachten sie damals – egal für wie lange. Dann kam Marco. Zuvor hatten sie seine leiblichen Eltern kennengele­rnt und zwei schlaflose Nächte: „Wenn der so wird wie sein Vater“, dachte Luise. Sie entschiede­n sich trotzdem für Marco. Er sei zugänglich gewesen, habe aber gelogen, provoziert, sei hamstern gegangen, sagt Anton. „Das hat’s bei unseren eigenen nicht gegeben.“

Noch mehr machten die leiblichen Eltern den Bergers zu schaffen: Dreimal im Jahr zogen sie vor Gericht, obwohl Marco viel weinte und nicht mehr heimwollte. Er entwickelt­e Ticks, fing zum Stottern an. Neun Jahre lang ging das so: Gerichtste­rmin auf Gerichtste­rmin, die Bergers wurden vorgeladen, das Kind angehört, die Mutter kam mit ihrem Anwalt, der Vater mit seinem. Dann endlich, hat ein Richter Gerichtspa­use verordnet. Marco stottert heute noch. Kontakt zu seinen Eltern möchte er kaum.

So, wie es leibliche Eltern gibt, die um ihre Kinder kämpfen, gibt es auch jene, die sich nicht für ihr Kind interessie­ren, weiß Heidrun Döbel vom Landesjuge­ndamt. Oft klammerten aber auch die Pflegeelte­rn, beanspruch­ten das Kind für sich allein, sagt sie.

Soll der Gesetzgebe­r nun die Rechte der leiblichen Eltern, der Pflegefami­lien oder die des Kindes stärken? Zuletzt gab es einen Vorstoß der SPD, die Situation früher zu klären. Man wollte Pflegeelte­rn die jahrelange Hängeparti­e ersparen, die entstehen kann, wenn die rechtliche­n Eltern – oft trotz Erziehungs­unfähigkei­t – laufend Anspruch erheben auf ihr Kind. Der CDU ist der Gesetzesen­twurf zu pauschal. Marcus Weinberg, familienpo­litischer Sprecher der CDU/ CSU-Bundestags­fraktion, findet: Man sollte stets nach Einzelfall entscheide­n. Das Kind sollte wieder nach Hause dürfen, außer die leiblichen Eltern könnten ihm schaden oder hätten kein Interesse. Das sei bereits Gesetz. Doch: „In der Praxis finden Rückführun­gen aus der Vollzeitpf­lege zu den Herkunftse­ltern nach einem Jahr nur in drei bis fünf Prozent der Fälle statt.“

Trotzdem wünscht sich Sozialpäda­gogin Margit Schiefelbe­in von der Politik eine zeitliche Begrenzung, „dass der Verbleib des Kindes nicht immer wieder infrage gestellt werden kann.“Eine Perspektiv­e, auch rechtlich. Kinder säßen sonst zwischen den Stühlen, lebten mit Angst und Unsicherhe­it.

Dass sich immer weniger Interessie­rte beim Jugendamt melden, liege aber vor allem am gesellscha­ftlichen Wandel. Familien lebten wieder eher in Innenstädt­en. Dort gebe es weniger Platz. Auch sei die Mutter früher mit den Kindern zu Hause geblieben und hätte noch ein Kind dazu genommen. „Heute wollen Frauen ihren berufliche­n Weg gehen

In manchen Fällen kommt es vor Gericht zum Drama

Eltern stehen unter hohem gesellscha­ftlichen Druck

und nicht jahrelang als Hausfrau zu Hause bleiben.“Ein fremdes Kind zu betreuen passe häufig nicht in die Familienpl­anung.

Bei den Bergers ging Luise als Lehrerin weiter arbeiten, Anton, gelernter Techniker, blieb daheim bei den Kindern. Carina Meier reduzierte ihre Stunden als Lehrerin, auch ihr Mann konnte seine Arbeitszei­t als Angestellt­er verkürzen. Beide verzichten auf Lohn, statt Elterngeld haben sie Pflegegeld bekommen. „Das ist bei einem Haus mit Ratenzahlu­ng nicht so einfach“, sagt Carina. „Aber das wäre bei einem eigenen Kind auch nicht anders.“

Margit Schiefelbe­in zufolge kommen heute noch die hohen Erwartunge­n an Familien hinzu. Eltern sollen Kinder intellektu­ell, sprachlich und musisch fördern, bei Freizeit und Sport unterstütz­en, sich in der Schule einbringen und gewisse materielle Standards bieten können. Ein enormer Druck.

Und: „Wer hat noch die Zeit und will das soziale Engagement auf sich nehmen?“Aber ein Pflegekind könne auch eine Riesenbere­icherung sein, sagt die Sozialpäda­gogin. In vielen Fällen gelinge es, Kinder in den Familien zu beheimaten. Davon profitiert­en Kinder und Pflegeelte­rn gleicherma­ßen: „Es ist eine ganz erfüllende Sache, einem Menschen einen Lebensweg mit Chancen zu eröffnen.“

 ?? Foto: Boris Roessler, dpa ?? Seit Jahren wird diskutiert, ob der Staat die Rechte von Pflegeelte­rn, leiblichen Eltern oder die des Kindes stärken sollte. Ein heikles Thema. Während die Politik um Gesetzesre­formen ringt, haben es die Jugendämte­r immer schwerer, Pflegefami­lien zu finden, wenn Kinder ihren leiblichen Eltern genommen werden.
Foto: Boris Roessler, dpa Seit Jahren wird diskutiert, ob der Staat die Rechte von Pflegeelte­rn, leiblichen Eltern oder die des Kindes stärken sollte. Ein heikles Thema. Während die Politik um Gesetzesre­formen ringt, haben es die Jugendämte­r immer schwerer, Pflegefami­lien zu finden, wenn Kinder ihren leiblichen Eltern genommen werden.

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