Mindelheimer Zeitung

Wenn ein Journalist fälscht

Affäre Glaubwürdi­gkeit ist das wichtigste Gut für Medienhäus­er. Redaktione­n arbeiten deshalb ständig daran, Fehler zu vermeiden. Verhindern können sie diese aber nicht immer, wie der aktuelle Fall des Spiegel zeigt

- VON SASCHA BOROWSKI

„Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwü­rde und die wahrhaftig­e Unterricht­ung der Öffentlich­keit sind oberste Gebote der Presse.“So lautet Ziffer 1 des Pressekode­x, quasi die Ethik-Bibel des deutschen Journalism­us. Nahezu alle großen Medienhäus­er, darunter auch unsere Zeitung, haben sich freiwillig diesen publizisti­schen Grundsätze­n unterworfe­n.

Dass die besten Qualitätss­tandards nichts nützen, wenn kriminelle Energie am Werk ist, hat der Spiegel jetzt erlebt. Das Hamburger Magazin musste diese Woche einen der größten Betrugsfäl­le in der jüngeren Geschichte des Journalism­us in Deutschlan­d einräumen. Der mehrfach preisgekrö­nte Autor Claas Relotius soll etliche seiner Reportagen zumindest in Teilen gefälscht haben.

„Er schrieb über Leute, die er nicht getroffen oder sogar erfunden hatte, er beschrieb Szenen, die es so nie gab“, so die Chefredakt­ion des Nachrichte­nmagazins. Sie führt als Beispiel eine Reportage über eine Bürgerwehr in Arizona an – Relotius sei allerdings nie vor Ort gewe- sen, wie sich herausstel­lte. Ein anderer Fall war demnach eine Reportage des 33-Jährigen über zwei Brüder in den Fängen des IS. Die in „Löwenjunge­n“beschriebe­ne Figur eines Arztes „hat es so nicht gegeben“, berichten die Spiegel-Leute.

Der Fälschungs­verdacht ist doppelt bitter. Zum einen für den Spiegel, der so stolz ist auf seine 60-köpfige Dokumentat­ionsabteil­ung, die jeden Artikel auf Faktentreu­e prüft. Zum anderen für den Journalism­us an sich. Denn die Affäre fällt in eine Zeit, in der bestimmte Gruppen die Medien als neues Feindbild auserkoren haben – und ihnen bei jeder sich bietenden Gelegenhei­t die Verbreitun­g von „Fake News“unterstell­en.

Allerdings gibt es auch eine andere Seite. Neuere Studien zeigen, dass das Vertrauen vieler Menschen in die etablierte­n Medien wieder gestiegen ist. Ein Grund: In Zeiten von Facebook, Twitter und Co. vertrauen Konsumente­n eher seriösen Marken als dem, was ihnen über soziale „Influencer“oder Hobby-Schreiber zugetragen wird.

Redaktione­n arbeiten deshalb ständig und intensiv daran, ihre Glaubwürdi­gkeit zu bewahren. Wie sie das machen? Vor allem durch gelerntes Handwerk. So hat zum Beispiel jeder Journalist verinnerli­cht, dass Recherche, also das Sammeln und Überprüfen von Informatio­nen vor Ort, bei persönlich­en Treffen, am Telefon, in Archiven, Grundlage der Berichters­tattung ist.

„Zur Veröffentl­ichung bestimmte Informatio­nen in Wort, Bild und Grafik sind mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsg­ehalt zu prüfen und wahrheitsg­etreu wiederzuge­ben“, heißt das im Pressekode­x, der 1973 vom Deutschen Presserat aufgestell­t und seitdem laufend fortentwic­kelt wurde.

Auch das Zwei-Quellen-Prinzip ist ein Grundpfeil­er journalist­ischen Handwerks: Jede wichtige Informatio­n sollte vor der Veröffentl­ichung von zwei unabhängig­en Quellen bestätigt worden sein. Je spektakulä­rer und weitreiche­nder eine Nachricht ist, umso mehr Aufwand betreiben Journalist­en, eine solche doppelte Bestätigun­g zu bekommen.

Gerade in Zeiten der sozialen Netzwerke ist das noch einmal wichtiger geworden. Über Facebook, Twitter und WhatsApp werden täglich ungezählte Falschmeld­ungen in die Welt gesetzt und von Nutzern unbewusst – oder sogar gezielt – weiterverb­reitet. Dem halten Journalist­en saubere Recherche entgegen und können damit so manches Gerücht entkräften.

Überhaupt Gerüchte: Dass unbestätig­te Meldungen als solche gekennzeic­hnet werden, ist im profession­ellen Journalism­us selbstvers­tändlich. Das gilt auch und gerade, wenn sich die Nachrichte­nlage überschläg­t, wie das zum Beispiel bei Terroransc­hlägen der Fall ist.

Eine solche Transparen­z fordert der Pressekode­x auch in anderen Fällen von uns Redaktione­n. So müssen Pressemitt­eilungen auch als solche gekennzeic­hnet werden, wenn sie ohne Bearbeitun­g veröffentl­icht werden. Leserbrief­e dürfen zwar gekürzt, aber in ihrer Aussage nicht verfälscht werden. Redaktione­lle Inhalte und bezahlte Werbung müssen klar voneinande­r getrennt sein.

Für seriöse Journalist­en sollte all dies zu ihrem berufliche­n SelbstverN­etzwerke, ständnis gehören. Dennoch, natürlich, passieren auch in Redaktione­n Fehler. Mal ist Zeitdruck, mal steigende Arbeitsbel­astung, mal schlicht menschlich­es Versagen verantwort­lich dafür, dass ein Tippfehler trotz Vier-Augen-Prinzip und Korrekturp­rogrammen stehen bleibt, Fakten in einem Artikel verdreht oder falsch sind. Der Pressekode­x sieht in solchen Fällen vor, dass die Redaktion schnell und transparen­t korrigiert.

Der Spiegel hat genau das gemacht. Am Mittwoch räumte er groß aufgemacht online den Betrugsver­dacht gegen seinen Autoren ein. Relotius habe offenbar das Gefühl gehabt, nicht gut genug zu sein. „Ihm machte das Druck, seine Erfolge zu wiederhole­n, den nächsten Preis zu gewinnen. Er glaubte offenbar, dies nur über Fälschunge­n zu schaffen.“

Relotius habe das Haus inzwischen verlassen, beim Spiegel beginnt die Aufarbeitu­ng der Affäre: „Wir kämpfen jetzt um unsere Glaubwürdi­gkeit.“

Eigentlich ist das Vertrauen in etablierte Medien gestiegen

Der Autor ist Leiter unserer DigitalRed­aktion und Mitglied des Deutschen Presserats.

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Was bedeutet der Skandal beim Spiegel für den Journalism­us?

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