Endlich daheim
Der kleine Mattheo leidet an einem seltenen Gendefekt. Vor einem Jahr begann die Familie mit der Suche nach einem Stammzellenspender – wie zuvor schon für seinen Bruder. Über ein Jahr im Ausnahmezustand
Unterthingau Dieses Weihnachtsfest, sagt Tanja Heel, werde etwas Besonderes. Für sie, für ihren Mann Hubert, erst recht für die vier Kinder. Weil sie vor Monaten nur hoffen konnten, dass sie gemeinsam feiern werden. Vielleicht im Haunerschen Kinderspital in München, vielleicht in der angrenzenden Elternwohnung. Weil es so aussah, dass Tanja Heel mit Mattheo, dem Jüngsten, erst im Januar wieder nach Hause kann. Jetzt sitzt die 35-Jährige in ihrem Haus in Unterthingau im Ostallgäu, hält den 14 Monate alten Buben auf dem Arm und sagt: „Es ist schon ein großes Glück, dass wir wieder daheim sind.“
Fast ein Jahr ist es her, dass Tanja Heel an diesem Platz saß, den Säugling im Arm wiegte und ihre Geschichte mit dem Satz begann: „Wenn es schiefgeht, war es das einzige Weihnachten, das wir mit Mattheo hatten.“Neun Tage nach seiner Geburt erfuhren die Eltern, dass ihr Sohn an einem angeborenen Immundefekt leidet. Tanja Heel hat keine Mühe zu erklären, was „chronische Granulomatose“für den Kleinen bedeutet – dass die weißen Blutkörperchen nicht richtig arbeiten und seine Immunabwehr deswegen nicht funktioniert, dass sich Bakterien und Pilze dadurch ungehindert in seinem Körper ausbreiten können. Die Diagnose trifft geschätzt eines von 200 000 Neugeborenen. Nur ein Stammzellenspender kann sein Leben retten. So, wie das schon bei seinem Bruder Benjamin im Jahr 2012 war.
„Es ist Fluch und Segen zugleich, wenn man das schon einmal durchgemacht hat“, sagt Tanja Heel. Weil man einerseits weiß, was auf einen zukommt, aber andererseits genau davor Angst hat. Als Benjamin die Diagnose bekommt, stellen die Ärzte fest, dass die Mutter ihm denseltenen Immundefekt vererbt hat. Bei ihr wirkt er sich nicht aus, ebenso wenig bei den Töchtern Lea-Sophie, 10, und Patrizia, 4. Von der Erkrankung sind nur Buben betroffen. In Mattheos Fall hielten es die Ärzte für wahrscheinlicher, dass er gesund zur Welt kommt. Tanja Heel hat nie damit gehadert. „Jedes Kind ist ein Geschenk“, sagt sie.
Trotzdem muss die Familie auf einen Spender warten. Weil aus der Familie niemand in Frage kommt, sind die Heels erneut auf die DKMS, ehemals Deutsche Knochenmarkspenderdatei, angewiesen. „Mattheo braucht ein Weihnachtswunder“, heißt es damals. Der Säugling bekommt mehrmals am Tag Antibiotika und Antimykotika, also Antipilzmittel, die seinen Körper stabil halten, bis ein genetischer Zwilling gefunden ist. Monatelang hört die Familie nichts. Die Eltern werden unruhig – auch, weil man bei Benjamin die passende Spenderin zwei Monate nach der Diagnose fand. Nach einem halben Jahr dann die gute Nachricht für Mattheo: Es gibt sogar drei passende Personen. Die Stammzellen spendet schließlich ein junger Mann.
Am 23. September zieht Tanja Heel mit Mattheo ins Haunersche Kinderspital, ihr Mann und ihre Mutter kümmern sich in Unterthingau abwechselnd um die anderen Kinder. Es beginnt jener „Ausnahmezustand“, den die Mutter schon einmal erlebt hat und den sie in Bildern dokumentiert: Mattheo im Krankenzimmer, mit Mundschutz und dem Katheter, der für die Chemotherapie nötig ist.
Und dann sind da die Momente, die Tanja Heel nie vergessen wird: Wie die Stammzellen in den kleinen Körper laufen, 20 Stunden lang, und sie nichts tun kann als zuzuschauen und zu hoffen. Oder wie Mattheo am zweiten Tag der Chemo einen Krampfanfall auf ein Medikament bekommt, wie das verkabelte Baby in ihren Armen blau anläuft und nicht mehr atmet. Zum Glück ist ihre Mutter da und holt sofort Hilfe. Nach zwei Stunden ist die Sauerstoffsättigung wieder normal. „Und ich wusste, dieses Medikament bekommt er noch sechs Mal.“
Aber es gibt auch schöne Erinnerungen. Tag 15 nach der Transplankommt tation, als die ersten Stammzellen in Mattheos Körper nachgewiesen werden können. Tag 21, als die Mutter endlich ohne Mundschutz mit ihrem Sohn kuscheln darf. Oder der 15. Oktober, Mattheos erster Geburtstag. Die Eltern haben einen Stoffkuchen mitgebracht, der gewaschen und desinfiziert wird, außerdem Helium-Luftballons – normale scheiden aus, weil Mattheo nichts anfassen darf, was den Boden berührt hat. „Er war in jener Nacht wach“, sagt Tanja Heel und muss lachen. „Die Schwestern haben Luftballons aufgeblasen und wir haben für ihn gesungen.“Wenn alles gut geht, wird die Familie noch einmal feiern, ein Jahr nach der geglückten Stammzellentransplantation. „Dann kann man davon ausgehen, dass er gesund ist.“
61 Tage nach der Transplantation darf Tanja Heel ihren Sohn mit nach Hause nehmen – früher als geplant. Mattheo hat noch immer einen Katheter. Und er bekommt jeden Tag 13 bis 15 Einzeldosen – Antibiotika, Antimykotika, krampflösende Medikamente,
Die Immunabwehr des Buben funktioniert nicht
Heuer werden wieder Tränen fließen
Mittel gegen Viren und Bluthochdruck. „Er ist noch nicht über den Berg“, sagt sie. „Aber das Allerschlimmste ist geschafft.“
Der Alltag ist im Hause Heel schnell wieder eingekehrt. Trotzdem genießt sie es, dass sie wieder daheim ist. Dass sie weiß, wie es bei Patrizia im Kindergarten oder bei den beiden Großen in der Schule war. Dass sie abends mit ihrem Mann auf dem Sofa sitzen kann, im eigenen Bett schläft. „Das gibt alles viel Kraft. Vielleicht schaffen wir es ja sogar, Plätzchen zu backen.“
Mattheo lacht und gluckst, manchmal krabbelt er oder zieht sich hoch. Die Mutter lächelt. An Silvester 2017, erzählt sie, standen sie nachts draußen mit gemischten Gefühlen, was auf sie alle zukommen würde, mit Tränen im Gesicht. „Dabei war es ein gutes, ein wundervolles Jahr.“Nicht nur wegen Mattheos Transplantation. Lea-Sophie hat ihre Erstkommunion gefeiert, Benjamin wurde eingeschult. Und: Die Heels haben im Juli kirchlich geheiratet, ganz spontan. „Heuer werden wir an Silvester wieder draußen stehen und es werden wieder Tränen fließen“, sagt Tanja Heel. Es werden Tränen der Erleichterung sein.