Mindelheimer Zeitung

„Singen ist ein Glückscock­tail“

Brauchtum Gerade an Weihnachte­n wird viel gesungen. Wie gut es Seele, Körper und Geist tut, haben Experten längst herausgefu­nden. Auch bei schweren Erkrankung­en kann es helfen

- VON DANIELA HUNGBAUR

Augsburg Probieren Sie es aus! Legen sie Ihre Lippen aufeinande­r und kommen Sie in ein Summen. Legen Sie nun Ihre Hand auf den Halsoder Brustberei­ch. Spüren Sie es? „Diese Vibratione­n erzeugen Schwingung­en, die durch den ganzen Körper fließen“, sagt Vera Kimmig. „Der Körper wird ausbalanci­ert. Die Vibration aktiviert die Selbstheil­ungskräfte. Singen hilft heilen, Singen ist für jeden Menschen ein Glückscock­tail“, bringt es die ausgebilde­te Sängerin und Musikpädag­ogin auf den Punkt. Gerade an Weihnachte­n, wo doch viele in „Stille Nacht“& Co. begeistert einstimmen, eine gute Botschaft.

Doch Singen kann noch mehr. Kimmig ist im Vorstand des Vereins „Singende Krankenhäu­ser“. Der Verein setzt sich für die Verbreitun­g von heilsamen und gesundheit­sfördernde­n Singangebo­ten an Krankenhäu­sern und anderen Gesundheit­seinrichtu­ngen ein. Denn: „Es gibt wissenscha­ftliche Belege dafür, wie positiv der Körper gerade auf das gemeinsame Singen reagiert“, betont Kimmig. Wichtig ist, dass es kein leistungsb­ezogenes Singen sei. „Jeder kann und darf mitsingen. Falsche Töne gibt es nicht.“Kimmig verwendet auch bestimmte Lieder, wenn sie beispielsw­eise mit psychisch kranken Menschen singt, mit Menschen, die etwa an Depression­en oder Ängsten leiden. Die Lieder hätten kurze Texte und eine positive Botschaft.

Generell habe sich wissenscha­ftlich nachweisen lassen, dass nach nur 20 Minuten Singen die Immunglobu­line A, die unsere Abwehrkräf­te stärken, im Speichel deutlich angestiege­n sind. Auch werde schon nach kurzem Singen das „Kuschelhor­mon“Oxytocin gebildet, das Heilungspr­ozesse beschleuni­gen kann. Im besten Fall entstehe ein richtiger „Flow“, „es singt durch mich, ein wunderbare­r Zustand“, schwärmt Kimmig und sagt: „Dadurch wird auch der Herzrhythm­us harmonisie­rt, wovon gerade Menschen profitiere­n, die ein erhöhtes Schlaganfa­ll- oder Herzinfark­trisiko haben.“Und es habe sich gezeigt, dass Parkinson-Patienten, die regelmäßig singen und sich dazu bewegen, unter ärztlicher Aufsicht ihre Medikament­e reduzieren konnten.

Ursula Späth ist seit über 20 Jahren Heilprakti­kerin für Psychother­apie in Friedberg. Sie hat eine eigene Singgruppe in der Selbsthilf­egruppe für Krebspatie­nten im Landkreis Aichach-Friedberg gegründet. Dort macht sie immer wieder die Erfahrung, was Singen an

Der Herzrhythm­us harmonisie­rt sich

auslösen kann. Oft sei es ja so, dass Krebspatie­nten nach der Diagnose erst einmal versuchen, wie gewohnt weiterzuma­chen. Sie müssen in vielen Fällen eine Chemooder Strahlenth­erapie überstehen. Ihre Gefühle bleiben aber nach Einschätzu­ng von Ursula Späth oft auf der Strecke. Und so sei es nur gut, dass gerade beim erstmalige­n Singen in ihrer Gruppe auch Tränen fließen. „Singen macht weich. Singen löst“, erklärt sie. Singen heile keine Krankheit, aber unterstütz­e Menschen im Heilungspr­ozess. „Vor allem hilft Singen dabei, die Stimmung relativ schnell zu heben.“

Eine enorme Wirkung hat Singen auf Demenzpati­enten. Das hat Dr. Wolfgang Tressel immer wieder erlebt. Er ist der frühere Chefarzt der geriatrisc­hen Rehaklinik der Hessing-Stiftung, Dozent der Universitä­t Augsburg am Lehrstuhl für Musikthera­pie und Gründer des Augsburger Ärzteorche­sters. Auch Menschen mit einer schweren Demenz stimmen oft beim Hören der Lied- melodie mit ein und beherrsche­n alle Strophen. „Die Texte sind mit der Musik abgespeich­ert“, erklärt Tressel. „Und Musik ist ein emotionale­s Erlebnis“– vor allem das aktive Musizieren, wenn man singt oder ein Instrument spielt. Musik sei auch oft der Einstieg, um Menschen überhaupt wieder zu öffnen für eine Kommunikat­ion. Tressel hat Patienten erlebt, die nach einem schweren Schlaganfa­ll mit einer Sprachstör­ung nur noch wenige Silben hervorbrin­gen konnten, „aber sie konnten ganze Lieder singen“. Und das motiviere Patienten enorm.

Karl Höldrich weiß um diese heilsame Wirkung. Dem Leiter der Augsburger Sing- und Musikschul­e ist es daher wichtig, seine Einrichtun­g auch für Menschen mit Demenz zu öffnen. Der Chor „Grenzenlos“, der sich regelmäßig in der Schule trifft, ist ein Angebot für sangesfreu­dige Senioren, bei dem auch Menschen mit Demenz ausdrückli­ch willkommen sind.

Doch Höldrich wäre nicht Musikpädag­oge, wenn er nicht um die extrem positive Wirkung des Singens in jeder Altersgrup­pe und nicht nur für kranke Menschen zu berichten wüsste. Gerade das Singen in GemeinGefü­hlen schaft sei es, das Menschen verbindet. „Das gemeinscha­ftliche Singen geht zu Herzen“, sagt der 54-Jährige, „das ist in uns drin.“Wer dafür einen Beweis braucht, bekommt ihn an diesem Vormittag. Zum „Fröhlichen Weihnachts­singen“hat die Schule Senioren eingeladen. Jeder, der will, kann kommen. Maria Fleckenste­in ist dabei. Die 83-Jährige verfügt nicht nur über eine schöne Stimme. Sie ist auch textsicher. Regelmäßig geht sie zum Singen in den Kirchencho­r. Und jedes Mal nach der Chorprobe gehe es ihr besser als vorher, erzählt sie. Begleitet werden die Sängerinne­n und Sänger an diesem Vormittag vom Tischharfe­norchester unter der Leitung von Angelika Jekic. Petronella Übele hat früher auch mitgespiel­t. Heute ist sie zum Singen gekommen. „Denn Singen befreit“, sagt die 79-Jährige. „Singen lässt uns auch vergessen.“Sorgen etwa. Oder Ärger. Hella Hörster nickt. Die rüstige 94-Jährige hat ein Quartett in ihrer Wohnanlage gegründet und sagt: „Musik ist Medizin“– und hält, wenn man sie so sieht, auch fit. Wenn das nicht alles gute Gründe für Menschen jeden Alters sind, jetzt an Weihnachte­n viel zu singen.

 ?? Foto: Annette Zoepf ?? Karl Höldrich (erste Reihe, Zweiter von links) leitet die Sing- und Musikschul­e Augsburg und öffnet das Haus regelmäßig für Menschen, die einfach gerne in Gemeinscha­ft singen. Unser Bild entstand beim „Fröhlichen Weihnachts­singen“.
Foto: Annette Zoepf Karl Höldrich (erste Reihe, Zweiter von links) leitet die Sing- und Musikschul­e Augsburg und öffnet das Haus regelmäßig für Menschen, die einfach gerne in Gemeinscha­ft singen. Unser Bild entstand beim „Fröhlichen Weihnachts­singen“.

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