Sehnsucht nach dem goldenen Adler
Skispringen Seit 17 Jahren hat kein Deutscher mehr die Gesamtwertung der Vierschanzentournee gewonnen. Trotz ungewöhnlicher Vorbereitung zählt vor dem Auftakt in Oberstdorf kein DSV-Athlet zum engeren Favoritenkreis
Werner Schuster ist geboren und aufgewachsen im Kleinwalsertal. Dieses rot-weiß-rote Fleckchen Erde ist von einer großen Gebirgskette vom Rest Österreichs abgetrennt und mit gängigen Fahrzeugen nur über Deutschland, genauer gesagt über das Allgäu, zu erreichen. Kurz vor Oberstdorf geht’s rechts ab in einen Talkessel, in dem – dem Vernehmen nach – die Menschen noch einen Ticken mehr abbekommen haben von der Eigenschaft des „Mächlers“. Kreativität gepaart mit handwerklichem Geschick und einer gehörigen Portion Detailbesessenheit, dazu die Bereitschaft, die Ärmel hochzukrempeln, all das würde auch in die Personalakte von Werner Schuster passen, der die deutschen Skispringer nun schon seit zehn Jahren als Cheftrainer betreut. Der 49-Jährige hat die DSV-Adler aus Krisen geführt, sie zu WM- und Olympia-Erfolgen geführt und es immer wieder geschafft, Talente aus der zweiten Reihe ins Rampenlicht zu stellen. Das Einzige, was dem Deutsch-Österreicher bislang verwehrt geblieben ist: ein Gesamtsieg bei der Vierschanzentournee, die früher ja noch „Deutsch-österreichische Springertournee“geheißen hat. Es nicht nur sich selbst zu beweisen, sondern auch all den Stöckls, Pointners und Horngachers, also all den österreichischen Trainerkollegen, mit denen Schuster in der Talentschmiede Stams in Tirol einst seine Ausbildung absolvierte.
Schuster hat schon alles Mögliche probiert, um den lang gehegten Traum für sich, für einen seiner Springer, aber auch für die abertausenden deutschen Skisprung-Fans an den Fernsehgeräten (siehe auch
wahr werden zu lassen. Um einen Nachfolger für Sven Hannawald zu finden, der vor 17 Jahren nicht nur als letzter DSVAthlet die Gesamtwertung der Tournee gewann, sondern sich mit dem Gewinn aller vier Einzelspringen auch ein Monument in der Sporthistorie baute, krempelte Schuster schon einmal Trainingspläne um. Mal machte er die besondere Drucksituation vor dem ersten Saisonhöhepunkt in Oberstdorf zum Hauptthema, dann klammerte er es komplett aus. Oder er imitierte eine volle Tournee-Trainings- und Wettkampf-Woche minutiös im Sommer nach. Weil das bislang alles noch nicht zum Erfolg führte, ließ sich Schuster in der Vorbereitung auf die diesjährige Tournee (Start am Samstag in Oberstdorf, siehe Zeitplan) wieder etwas Außergewöhnliches einfallen: eine Traioffiziell ningswoche auf der Urlaubsinsel Fuerteventura. Zum einen als Belohnung für den harten und erfolgreichen Olympia-Winter, zum anderen, um den Teamgeist weiter zu stärken – beim gemeinsamen Training, beim gemeinsamen Wassersport, aber vor allem beim gemeinsamen Tauchen. Dass Andreas Wellinger, Markus Eisenbichler und Karl Geiger sogar Haien begegneten, war Schuster nur recht: „Auch bei der Tournee kommt es darauf an, in Stresssituationen blind und eng zusammenzuarbeiten. Das ist die Basis, um große Erfolge feiern zu können“, sagte Schuster im Sommer. Vor kurzem auf die Mission Tourneesieg angesprochen, reagierte Schuster weitaus verhaltener: „Wir wollen uns die Chance erarbeiten, ganz oben stehen zu können.“Doch der Kleinwalsertaler weiß auch: Olympiasieger Andreas Wellinger fehlt es an Konstanz, Richard Freitag plagen Hüftprobleme, Comebacker Severin Freund ist weit entfernt von der Form alter Tage und Emporkömmling und Lokalmatador Karl Geiger hat viele Qualitäten, Nervenstärke bei Heimwettkämpfen zählen bislang nicht dazu. Bliebe der in dieser Saison so stabil springende Stephan Leyhe. Kürzlich sagte Schuster: „In Deutschland warten sie seit Jahren auf einen Tournee-Sieg. Dann macht’s der Leyhe. Wer weiß das schon. Ich weiß es nicht.“
Zwischen den Jahren gibt es zwei Konstanten: Plätzchen und die Vierschanzentournee. Was könnte auch entspannter sein, als diese beiden Dinge miteinander zu kombinieren. Plätzchen rein, Springer springt. Nächstes Plätzchen rein, nächster Springer springt. Diese perfekte Symmetrie nachweihnachtlicher Faulheit, wunderbar. Sie wird und selbst
auch in diesem Jahr traumhafte Einschaltquoten bescheren.
Käme dazu nun auch noch ein deutscher Springer, der bis zum vierten Wettbewerb Siegchancen hat, würde das die Fernsehmacher zu sehr glücklichen Menschen machen. Diesbezüglich allerdings eine Prognose zu wagen wäre extrem mutig. Denn im Skispringen gibt es vieles, nur keine Verlässlichkeit. Diese Unberechenbarkeit ist einer der wichtigsten Gründe für die Beliebtheit der schlanken Flieger.
Nahezu jeden Winter ploppt ein anderer aus dem Nichts hervor und wird zum Favoriten hochgefeiert. In diesem Jahr ist es der Japaner Ryoyu Kobayashi. Bis zum Saisonauftakt in Wisla kannten den nur einige Experten. Jetzt, unfassbare vier Siege aus sieben Springen später, ist er der Mann, den es zu schlagen gilt.
Momentan hat der 22-Jährige das beste Paket beisammen. Vor allem am Absprung ist er der explosivste. Ob das aber auch dafür reicht, die Tournee zu gewinnen, ist offen. Schon viele sind in Oberstdorf als Favoriten gestartet und weit abgeschlagen in Bischofshofen wieder gelandet. Vier Wettbewerbe in kürzester Zeit, all der Rummel, all die Medientermine dazwischen – die Ansprüche an Geist und Körper sind enorm. Die Tournee verzeiht keine Fehler. Ein schwacher Sprung kann alles zerstören. Konstanz ist das Zauberwort. Der Beleg dafür: Schon achtmal gab es Gesamtsieger, die auf keiner der vier Schanzen Tagessieger wurden.
Umgekehrt gab es erst zwei, die alle vier Springen gewannen. Sven Hannawald war 2001/2002 der erste. Dieses Alleinstellungsmerkmal verlor er im vergangenen Winter, als Kamil Stoch ebenfalls viermal triumphierte. In diesem Winter ist der Pole noch nicht besonders aufgefallen, dennoch weiß er wohl am besten, wie man die Anforderungen der Tournee meistert. Mit ihm ist immer zu rechnen:
Und die Deutschen? Karl Geiger hat mit seinem Sieg in Engelberg die Hoffnungen geweckt. Aber erstens kommt es anders und zweiten als man denkt – nirgends passt dieser Spruch besser als für die Vierschanzentournee.