Mindelheimer Zeitung

Die Kinder von Chipunga

Mein Jahr Keine asphaltier­ten Straßen, kein Strom, selten Handy-Empfang, Wasser aus dem Brunnen – wie Michael Herkommer aus Türkheim als Lehrer in Malawi trotzdem die (bisher) beste Zeit seines Lebens hatte

- VON SABINE SCHAA-SCHILBACH

Die Kinder des Dorfes kamen oft ohne Schuhe zum Unterricht in die Schule mit ihren acht Klassen und sechs Klassenzim­mern, und zum Glück konnten die zwei „Außenklass­en“bei Regenwette­r in die Kirche ausweichen. Manche Kinder waren mehr als eine Stunde zu Fuß unterwegs. Nur einige von ihnen besaßen Schulbüche­r, Hefte waren auch da, Kugelschre­iber waren allerdings Mangelware.

Das war die Realität in einem Dorf „im Busch“, in Malawi, einem eher kleinen Staat im südlichen Ostafrika, westlich des afrikanisc­hen Grabenbruc­hs am Malawi-See gelegen. Und das war die Realität für Michael Herkommer, der in der Schule von Chipunga Mathe und Sport und Spiel unterricht­ete. Studiert hat er Deutsch, Geschichte und Sozialkund­e für das Lehramt an Gymnasien. Michael Herkommer ist 28 Jahre jung, er stammt aus Türkheim und wohnt derzeit in Augsburg. Sein Berufswuns­ch: Lehrer. Aber nicht unbedingt in Deutschlan­d. Seine Zeit in Malawi hat ihn geprägt. Er könne sich auch vorstellen, später als Lehrer in Afrika zu arbeiten.

Von September 2017 bis August 2018 war Michael Herkommer in Chipunga auf 1350 Metern Höhe, einer Streusiedl­ung mit weiten Entfernung­en zwischen den einzelnen Wohnstätte­n. Es kann dort tagsüber in der Trockenzei­t bis zu 40 Grad heiß werden. Aufgrund der Höhe kann es nachts und in der Dämmerung aber auch ziemlich kalt sein, und in der Regenzeit droht die Gefahr von Überschwem­mungen. Die Tage in der Nähe des Äquators erscheinen kurz, es wird das ganze Jahr über zwischen 17.30 und 18.30 Uhr dunkel, allerdings auch morgens ab 5 Uhr wieder hell.

Michael Herkommer war in dieser fremden Umgebung auf sich gestellt. Er hatte nur einen ehrenamtli­chen Ansprechpa­rtner vor Ort, in einem Dorf, das in gebirgigem Gelände liegt, 25 Kilometer von der nächsten Stadt Mzuzu entfernt.

Nach Mzuzu konnte man mit dem Pickup gelangen, mehr als eine Stunde auf der Piste, wenn man zum Markt wollte oder zum Arzt musste. Letzteres ist Michael Herkommer zweimal passiert. Der Verdacht auf Malaria hatte sich zum Glück nicht bestätigt, es handelte sich „nur“um eine Lebensmitt­elvergiftu­ng. Als Ausländer hatte er das Privileg, in diesem Fall mit einem Taxi in die Stadt zu fahren. Denn er konnte es bezahlen.

Michael Herkommer hat als Lehrer einen echt abgelegene­n Ort in einem bei uns fast unbekannte­n Land zugeteilt bekommen. Die Anfangs- zeit war schwierig: „Die ersten zwei Monate war ich ziemlich allein. Erst als ich diese Situation akzeptiert hatte und mir Strukturen für den Tag gab, ging es mir besser“, erinnert er sich. „Aber dann später ging es mir richtig gut“.

Auch wenn eine wirkliche Integratio­n in das Dorfleben nicht möglich war - die kulturelle­n Unterschie­de seien kaum überbrückb­ar Michael Herkommer war bei den Dorfbewohn­ern akzeptiert. „Die Leute sind unfassbar freundlich“, sagt er. Man konnte zusammen Fußball spielen, aber gewohnt und gelebt hat Michael Herkommer alleine, in einem festen Haus, das ihm zur Verfügung gestellt wurde. Durchaus auch ein Privileg.

Einmal die Woche Wäsche waschen, mit der Hand und – „alles dauert länger“, sagt er. Aber dafür konnte er abends auf seinem Balkon sitzen und in den Dschungel und die Landschaft hineinscha­uen. Oft zwei, drei Stunden lang, unter einem grandiosen Sternenhim­mel. Er konnte den Geräuschen der Nacht lauschen, den Kröten, Eulen, dem Spektakel der wilden Affen. Am Vormittag arbeitete Michael Herkommer in der Schule, einer vom Fördervere­in Chipunga unterstütz­ten Primary School, die zusätzlich zum Unterricht eine Schulspeis­ung anbietet.

Offiziell gibt es in Malawi eine Schulpflic­ht, aber nur für die Primary School, denn alle anderen Schulen sind kostenpfli­chtig. In seiner Klasse hatte Michael Herkommer es mit „nur“30 Kindern zu tun, aber „manchmal fangen die Klassen auch mit 50 Kindern an“, erzählt er, „und es gibt auch welche mit über 100 Kindern.“Das bedeute für viele Lehrer Schichtarb­eit.

Michael Herkommers Autorität war anerkannt. „Es gab den einen oder anderen Rotzlöffel, wie überall“, sagt er, „Kinder sind auf der ganzen Welt gleich.“Einheimisc­he Lehrer gibt es in Chipunga wenige, und auch die waren nicht immer zu den Unterricht­szeiten vor Ort, sondern hatten noch andere Jobs, um ihre Familien über Wasser zu halten.

Dieser „Kulturclas­h“, wie Michael Herkommer es nennt, äußert sich in vielerlei Weise. Zum Beispiel auch in einem völlig gegensätzl­ichen Verständni­s von Zeit. Wenn er sich verabredet hatte und mehrere Stunden warten musste, um dann zu hören „You have the clock, but we have the time“(„Ihr habt die Uhr, aber wir haben die Zeit“), war das für ihn anfangs schwer zu ertragen. „Aber dann bin ich viel geduldiger geworden.“Auch die sprachlich­e Verständig­ung mit seinen Schülern stellte ihn vor große Herausford­erungen. „Chitumbuka“ist die Sprache der Gegend um Mzuzu. Er hat sie gelernt, das sei nicht schwer gewesen, sagt Michael Herkommer ganz bescheiden. Englisch müssten die Kids ja erst noch lernen.

Malawi ist offiziell eine Demokratie mit einem demokratis­ch gewählten Präsidente­n. Es gibt ein Parlament, aber kaum eine Opposition. Herkommer: „Es gibt in Malawi wenig Erfahrung mit Demokratie, wie wir sie haben. Und es gibt viel Korruption, die Geißel armer Länder“. Polizisten kassierten bei Straßenkon­trollposte­n, den „road blocks“, willkürlic­h nach eigener Kassenlage ab, erzählt er.

Michael Herkommer stellt die herkömmlic­he Entwicklun­gshilfe für Länder wie Malawi in Frage. Sie schaffe Abhängigke­iten und verhindere eigene Initiative­n. Egal, ob es um Solaranlag­en oder Brunnen gehe, die „man hinstellt und dann wieder abhaut.“Oder den Import europäisch­er Kleiderspe­nden, der eine eigene Bekleidung­sindustrie im Land gar nicht erst entstehen ließe. In Malawi sei jegliches „Business“in ausländisc­her Hand. Beispielsw­eise hätten chinesisch­e Investoren ein großes Fußballsta­dion „spendiert“, aber für wen? Und um welchen Preis?

Nach dem Unterricht in der Schule am Vormittag hatte Michael Herkommer viel Zeit für sich selber am Nachmittag. Und er bekam insgesamt dreimal Besuch aus Deutschlan­d von seiner Schwester und von Studienkol­legen. Als Lehrer waren sie auch im Unterricht vor Ort mit dabei und sehr beeindruck­t vom Land und davon, wie Michael Herkommer sein Leben im Busch eingericht­et hatte. Sie erfuhren die außergewöh­nliche Gastfreund­schaft in Chipunga. Für Michael Herkommer waren die Besuche seiner Freunde sehr wichtig. Er konnte ihnen das Land zeigen, und sie durften seine Lebenssitu­ation hautnah miterleben. Sie konnten, auch nach seiner Rückkehr, nachvollzi­ehen, wovon er redete.

In Deutschlan­d werde Schwarzafr­ika oft als Katastroph­en-Kontinent dargestell­t oder filmisch romantisie­rt. Michael Herkommer sagt dazu: „Es fehlt der Einblick in das Alltagsleb­en der ganz normalen Leute.“

Michael Herkommer mag sich und seine Zeit in Malawi aber nicht als „Samariterd­ienst“sehen. Er habe sich Prioritäte­n gesetzt, etwas Sinnvolles geleistet und für sich selber und für sein weiteres Leben viel mitgenomme­n: Er engagiert sich jetzt für die Integratio­n von Flüchtling­en in Augsburg.

Ein bisschen von seinem Herzen scheint bei den Kindern von Chipunga geblieben zu sein. Michael Herkommer erzählt, dass er auch gelernt hat, was Entschleun­igung bedeutet. „Ich habe einen Zaun konstruier­t, einen Garten angelegt. Einen Baum gefällt, ein Gewächshau­s gebaut. Und mit und bei diesen Tätigkeite­n habe ich mich so gut und so frei gefühlt wie noch nie. Ohne abgelenkt zu sein“. Und es ging ihm dann auch genau so, wie er es auch von anderen Freiwillig­en schon gehört hatte: „Man weint, wenn man ankommt. Und man weint, wenn man wieder weg muss.“

„Ihr habt die Uhr, wir haben die Zeit“Michael Herkommen musste einen „Kulturclas­h“verkraften „Man weint, wenn man ankommt. Und man weint, wenn man wieder weg muss“Michael Herkommer aus Türkheim über seine Zeit in Malawi

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Foto: Privatsamm­lung Herkommer Der Türkheimer Michael Herkommer (28) arbeitete ein Jahr lang freiwillig als Lehrer in Malawi. Die Kinder dort hat er kennen gelernt und wird ihre Zuneigung und Fröhlichke­it nie mehr vergessen.
 ??  ?? Im Pausenhof der Schule von Chipunga. Für die Schulspeis­ung bringen die Kinder Becher und Löffel von zuhause mit. Wer keinen Löffel hat, bei dem tut es auch ein Kugelschre­iber.
Im Pausenhof der Schule von Chipunga. Für die Schulspeis­ung bringen die Kinder Becher und Löffel von zuhause mit. Wer keinen Löffel hat, bei dem tut es auch ein Kugelschre­iber.

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