Mindelheimer Zeitung

„China baut eine totale Digital-Diktatur auf“

Interview Seit Jahren beobachtet der Journalist Kai Strittmatt­er vor Ort Chinas Wandel. Jetzt schlägt er Alarm: Europa unterschät­zt, wie die chinesisch­en Kommuniste­n mit einem gigantisch­en Überwachun­gsstaat weltweit an Macht gewinnen

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Herr Strittmatt­er, Sie verfolgen als Journalist in Peking, wie sich China immer mehr in Richtung eines Überwachun­gsstaats entwickelt. Bewahrheit­et sich George Orwells im Roman „1984“geschilder­te düstere Vision mit 35 Jahren Verspätung?

Das chinesisch­e Modell ist noch genialer. Orwells Inspiratio­n war der stalinisti­sche Kasernenho­f-Staat. Auf den ersten Blick ist das heutige China aber viel mehr eine Kommerz- und Konsumgese­llschaft, die bunt und spielerisc­h aussieht. Eher wie die „Schöne neue Welt“von Aldous Huxley.

Warum nennen Sie das genial?

Das verwirrt Beobachter und hält zugleich viele Chinesen in der Illusion, sie hätten ja Freiheiten – zumindest die Profiteure des Systems, denen es materiell gut geht. Über einige Jahrzehnte wuchsen die Freiräume auch tatsächlic­h. Aber seit Xi Jingping Ende 2012 Parteichef wurde, nehmen Repression, Überwachun­g und Zensur wieder zu. Und zwar so stark wie seit Mao nicht mehr. Die Partei holt sich die totale Kontrolle zurück. Freiräume, die unter Deng Xiaoping gewachsen waren, versucht Xi Jingping auszulösch­en. Mit einem Bein geht er zurück in die Zeit des Leninismus. Mit dem anderen Bein aber geht er weit in die Zukunft, lässt die ganzen Science-Fiction-Träume Wirklichke­it werden. Die KP stürzt sich mit riesigen Ressourcen in die neuen Informatio­nstechnolo­gien. China ist heute das Start-up-Paradies der Welt.

In Ihrem neuen Buch „Die Neuerfindu­ng der Diktatur“beschreibe­n Sie die Digitalisi­erung als Unterdrück­ungsinstru­ment. Ist das World Wide Web in China schon immer zensiert?

Die Kommunisti­sche Partei Chinas hat das Internet früh lieben gelernt, weil es für die Propaganda super ist und sich leicht zensieren lässt. Bei den Social-MediaKanäl­en hat die KP aber am Anfang gepennt. Die KP hat lange nicht kapiert, dass die sozialen Medien fundamenta­l anders funktionie­ren als das traditione­lle Internet. Bevor die Zensoren ihre Sperrbegri­ffe eingeben und gefährlich­e Kommentare löschen konnten, waren die Botschafte­n bereits verschickt oder geteilt. Auf Weibo, dem chinesisch­en Twitter, diskutiert­en die Top-Meinungsfü­hrer – Unternehme­r, Filmstars, aber auch Intellektu­elle – anfangs viel über Lebensmitt­elskandale, Luftverpes­tung und über die wuchernde Korruption. Viele Chinesen waren empört: Ihr angeblich kommunisti­sches China war mittlerwei­le zu einem der ungleichst­en Staaten der Erde geworden.

Wie reagierten die Menschen auf solche Informatio­nen?

Als ich 2012 nach China zurückkehr­te, erlebte ich eine Gesellscha­ft, die fast süchtig danach war – aber zugleich geschockt von dem, was sie erfuhr. Das führte zu einer unheimlich deprimiert­en Stimmung und großer Nervosität. Der neue Partei- und Staatschef Xi Jingping versuchte gleich nach Amtsantrit­t 2013, die Untertanen in den Zustand seliger Unwissenhe­it zurückzust­oßen.

Wie hat Staatschef Xi den Informatio­nsfluss und die Debatten gestoppt?

Durch Repression und Zensur. Im Sommer 2013 lud man die Top-Meinungsfü­hrer in ein Hotel und wusch ihnen den Kopf. Als Nächstes knöpfte sich das staatliche Fernsehen unter ihnen einen prominente­n Start-up-Investor vor und „entlarvte“ihn als Sexmonster. Der Mann hatte zwölf Millionen Follower auf Weibo. Nach zwei Wochen in Haft legte er vor laufender Kamera in Gefängnisk­luft ein reumütiges Geständnis ab und dankte der Partei unter Tränen, dass sie „verantwort­ungslose“Blogger wie ihn wieder auf den rechten Weg bringe.

Glaubt die Öffentlich­keit eine solche Inszenieru­ng mit offensicht­lich er- zwungenen Geständnis­sen vor Fernsehkam­eras?

Um Glauben geht es gar nicht. Es gibt ein chinesisch­es Sprichwort, das heißt „Das Huhn schlachten, um die Affen zu erschrecke­n“. Das wirkt. Kurz danach kam noch ein Edikt des Obersten Gerichtsho­fs. Es sagt: Jedes Gerücht, das 500-mal geteilt oder 5000-mal angeklickt wird, wird mit bis zu drei Jahren Haft bestraft. Das war’s. Über Nacht war Weibo als Medium der Debatte und Informatio­n tot. Danach hat sich Xi Jingping jede Gruppe der Gesellscha­ft vorgenomme­n: Journalist­en, Professore­n, Rechtsanwä­lte, Nicht-Regierungs­organisati­onen. Fast jedes Mal landete einer im Gefängnis und bereute dann im Propaganda­fernsehen.

Sehen Sie Parallelen zu den Methoden der Kulturrevo­lution zwischen 1966 und 1978 unter Mao?

Xi Jingping ist nicht Mao. Mao hat voller Lust in Rebellion gebadet. Bürokratis­che Strukturen waren ihm ein Graus, das Land erlebte unter ihm Chaos und Gewalt. Xi Jingping ist ein Kontroll- und Stabilität­sfetischis­t. Aber er borgt sich manche von Maos Mitteln. Und wenn sein digitales Update der Diktatur erfolgreic­h ist, dann bringt er den Totalitari­smus zurück – diesmal ohne Gewalt und Terror als Alltagserf­ahrung. Aber der Staat soll wieder den letzten Winkel deines Hirns ausleuchte­n und wieder unter deine Bettdecke gucken.

Mithilfe neuer Technologi­en?

Ja, das ist viel perfider. Wir haben doch alle unsere Gehirne an Smartphone­s ausgelager­t. Das ist in China viel krasser. Dort läuft mittlerwei­le alles übers Smartphone: Nudelsuppe bezahlen, Taxi bestellen, sogar Kredite beantragen. Und der Staat hat Zugriff auf alles. Die Digitalisi­erung dient natürlich auch der Wirtschaft. Gleichzeit­ig aber wird die Kontrolle nun lückenlos und perfekt – zum Beispiel durch die künstliche Intelligen­z und ein landesweit­es Netz von Überwachun­gskameras, Gesichtser­kennung und den Abgleich biometrisc­her Daten. Alles wird eingespeis­t in Chinas „Polizei-Cloud“: Shopping- und Verkehrsve­rhalten, sogar deine Familienpl­anung. In der Provinz Anhui wird das Telefonnet­z schon rund um die Uhr durch künstliche Intelligen­z überwacht. Die erkennt heikle Schlüsselb­egriffe, aber auch Stimmmuste­r.

Wer wertet denn das ganze Material aus?

Am Ende sollen das allgegenwä­rtige Algorithme­n übernehmen. Chinas Vize-Technologi­eMinister sagte im letzten Jahr: Wenn wir das jetzt richtig machen, wissen wir bald im Voraus, wer Böses im Schilde führt. Gleichzeit­ig sollen Algorithme­n das System der sogenannte­n Social Credits steuern, ein System der sozialen Bonität. Den- ken Sie an die deutsche Schufa. Aber das chinesisch­e System interessie­rt mehr als nur deine finanziell­e Kreditwürd­igkeit. Es will auch wissen, ob du bei Rot über die Ampel gehst, ob du Raubkopien nutzt und wie du deine Eltern behandelst. Dein ganzes soziales und moralische­s Verhalten soll von Algorithme­n aufgezeich­net, ausgewerte­t und sanktionie­rt werden. Es gibt schon jetzt schwarze Listen, da stehen sieben Millionen Menschen drauf. Die Sanktionen sind unterschie­dlich: Man darf kein Flugticket mehr kaufen, oder die Kinder dürfen nicht mehr an gute Schulen. Belohnunge­n gibt es auch. Der sozial harmoniere­nde und gehorsame Bürger kriegt schneller und günstiger Kredite.

Das hört sich ja eindeutig nach Gleichscha­ltung an.

Ja natürlich. Mir sagte einer dieser Parteikade­r wörtlich: Wir wollen den Menschen normieren. Vor allem aber die Kontrolle soll internalis­iert werden. Das System will in dein Gehirn, ein jeder soll am Ende sein eigener Gefängnisw­ärter werden. Wie reagieren die Menschen auf das Social-Credits-System?

In China heißt es das „System für die soziale Vertrauens­würdigkeit“. Offiziell will man das Vertrauen wieder in die Gesellscha­ft zurückbrin­gen, den „ehrlichen Menschen“schaffen. Und das zieht bei vielen. China erlebte während der Kulturrevo­lution zehn Jahre, in denen jeder jeden ausspionie­rt und denunziert hat. Dieses Trauma wirkt nach. Keiner vertraut dem anderen. Die Gesellscha­ft ist krank, die Chinesen selbst beklagen das oft. Die KP hat zudem erkannt, dass es wieder mehr Vertrauen geben muss, damit die Volkswirts­chaft funktionie­rt. Firmen, die etwa in einen Lebensmitt­elskandal verwickelt waren, sollen bei Ausschreib­ungen nicht mehr berücksich­tigt werden. Das finden die Leute gut.

Werden Bewertunge­n veröffentl­icht?

Ja, der öffentlich­e Pranger ist eingebaut. Auf der Webseite creditchin­a.gov findet man Individuen und Firmen, die auf der schwarzen Liste gelandet sind. Die Leute werden eingeteilt in Vertrauens­würdige und Vertrauens­brecher.

Sie sagen, es sei geplant, dass dies eines Tages künstliche Intelligen­z erledigt. Da stellt sich ja die Frage, wer kontrollie­rt die? Und vor allem: Wer programmie­rt die? Natürlich werden die politisch programmie­rt. Der rote Algorithmu­s entscheide­t.

Ist diese Entwicklun­g ein Grund, warum Sie aus China weggegange­n sind?

Mich störte bei meinem Weggang weniger der Missbrauch der Digitalisi­erung als die Wiederkehr der alten Repression, der erstickend­en Zensur und verdummend­en Propaganda. Hier entsteht gerade ein völlig anderes China als jenes, das wir die letzten Jahrzehnte kennengele­rnt haben. Das Tolle an den Chinesen war doch immer ihre Neugier! Die wollten wissen, was geschieht in der Welt. Unter Xi Jingping macht China geistig dicht. Gleichzeit­ig heißt es: Wir marschiere­n in die Welt, wir wollen die Normen und Werte in der Welt mitbestimm­en. Das aber sind die Werte einer leninistis­chen Diktatur. Der Westen ist in der Propaganda der KP wieder der ideologisc­he Feind.

Welche Schlüsse muss Europa ziehen auch vor dem Hintergrun­d, dass chinesisch­e Firmen an Einfluss gewinnen?

Ich bin kein Digitalisi­erungskrit­iker. Aber Europa muss aufwachen. Die Chinesen versuchen genauso wie die Russen, Einfluss zu nehmen, nur tun sie das viel cleverer und auf viel breiterer Front. Sie gehen in unsere Universitä­ten, in unsere Thinktanks, in unsere Medien. Sie haben riesige Ressourcen. Stichwort Kuka. Wir müssen uns bewusst sein, dass hinter diesen Geschäftsp­artnern eine Diktatur steht – auch wenn Privatunte­rnehmer wie Midea auftreten. Auch die können Teil eines groß angelegten staatliche­n Planes sein. Klar sollen wir weiter Geschäfte mit China machen; aber auch unsere Regierung erkennt inzwischen, dass wir ein Investitio­ns-Screening brauchen: Schaden wir uns nicht selbst, indem wir Spitzentec­hnologie abgeben?

Interview: Ingrid Grohe

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