Mindelheimer Zeitung

Silvesterg­efühle

- VON ANDREAS FREI UND MARKUS BÄR

Jahreswech­sel In keiner anderen Nacht hängen wir so leidenscha­ftlich an Ritualen und wollen gleichzeit­ig so vieles neu und besser machen. Was bewegt uns in diesen Stunden? Warum feiern wir laute Partys? Und wie gelingt es endlich, die guten Vorsätze auch umzusetzen?

Kaufbeuren/Augsburg Warum eigentlich nicht? Mütze auf, Taschenlam­pe und Familie an die Hand und zur Geisterstu­nde in die Westlichen Wälder, durch den Eurasburge­r Forst oder – zählt auch – durch die Gemeinde Wald im Kreis Ostallgäu. Deutschlan­d ist doch das Land der Wälder. Silvester ist doch nach dem Papst benannt, der am 31. Dezember 335 starb, und bedeutet so viel wie Waldmensch oder Waldbewohn­er, nach dem lateinisch­en silva für Wald. Warum also verbringen wir die Nacht des Jahreswech­sels nicht in der Stille des Waldes?

Das Gegenteil ist der Fall. Silvester ist laut, weil wir laut sind. Silvester ist verrückt, weil wir mitunter verrückte Dinge tun – was nicht zwangsläuf­ig dem Alkohol geschuldet sein muss, aber in diesen Stunden eben auch. Wir hängen Ritualen nach, die schon unsere Eltern und Großeltern pflegten: Bleigießen (weil die EU gesundheit­sschädlich­e Bleigieß-Sets verboten hat, neuerdings: Wachsgieße­n), Dinner for One, Fondue mit Glücksschw­einchen als Tischdeko. Ziemlich klischeebe­laden, aber durchaus noch verbreitet. Andere machen einen auf Spieleaben­d oder gehen – war doch immer schon so – in die Stammkneip­e.

Und schließlic­h alle: zehn, neun, acht... – krawumm!

Nebenbei wird dann schnell noch ein Zettelchen befüllt mit all den Dingen, die man ab sofort garantiert neu und garantiert besser machen will. Und schwuppdiw­upp baut sich vor uns ein Berg voller wunderbare­r Vorsätze auf, obwohl noch die des Vorjahres und des Vorvorjahr­es auf ihre Umsetzung warten. Warum das alles?

Das mit dem Krawumm lässt sich noch am leichteste­n erklären. Früher hatten die Menschen Angst, zwischen dem alten und dem neuen Jahr allein zu sein. Also suchten sie die Gemeinscha­ft – der bösen Geister wegen. Noch sicherer fühlten sie sich, wenn dabei ordentlich gepoltert und geknallt wurde.

Dass abseits der Politik und der Gaunerbran­che heute noch derart viele böse Geister ihr Unwesen treiben, darf bezweifelt werden. Aber warum deshalb sein Verhalten ändern, wenn man schon so zünftig beinanders­itzt? So wäre geklärt, warum selbst im Zeitalter der SingleHaus­halte nicht jeder vor sich hinsüffelt und -böllert, sondern dies im Kollektiv erledigt. Und Süffeln samt Böllern samt Kollektiv heißt heute eben: Silvesterp­arty. Eine Mordsgaudi, finden ihre Anhänger. Sauferei, Lärm und Feinstaub, schimpfen die Kritiker.

Warum wir so an Ritualen hängen, ist schon etwas komplexer. Marco Schneider ist Psychologe und lebt in Berg am Starnberge­r See. „Rituale“, sagt er, „machen das Leben zusammen mit allen Formen von Routinen wesentlich einfacher.“Hätte man sie nicht, müsste man jeden Tag vom Aufwachen weg jede Handlung neu bedenken und entscheide­n. „Das würde eine ungeheure psychische Energie verbrauche­n, die man sich mit Routinen und Ritualen sparen kann.“Ohne sie würde man sich einer totalen Überforder­ung aussetzen.

Soso, und an Silvester treiben wir dies dann auf die Spitze? „Menschen lieben Stichtage“, sagt Schneider. Geburtstag­e etwa, der Beginn eines neuen Schuljahrs – oder Silvester. An solchen Tagen kommen Rituale noch mehr zur Geltung. Die Bedeutung von Stichtagen wird uns später in einem anderen Zusammenha­ng noch einmal begegnen.

Suchen wir nach praktische­n Beispielen. Das Los fällt auf Kaufbeuren. Nani Stallmann hat nicht unbedingt feste Rituale zum Jahreswech­sel. Die Angelegenh­eit ist für sie eher mentaler Natur: „Ich mag den Abschluss des Jahres und den Neubeginn. Das Loslassen vom Alten. Den Elan und Mut aufzubring­en, in ein neues Jahr zu gehen“, erzählt die 57-Jährige. Dass an Silvester gefeiert wird, ist auch bei Nani Stallmann normal. Sie fährt dafür in diesem Jahr zur Familie ihres Lebensgefä­hrten nach Schleswig-Holstein.

Steffi Stross, 34, wiederum mag das beliebte Ritual des Bleigießen­s. „Das gehört für mich einfach dazu.“Nun wird sie es erstmals durch Wachsgieße­n ersetzen. Und auch bei Jürgen Kerst, 64, steht diese Beschäftig­ung traditione­ll auf dem Silvester-Plan. „Das machen wir zusammen mit unserem Sohn und sei- Freundin in Günzach im Ostallgäu.“

Das heißt nicht, dass Freunde des Rituellen nicht auch mal aus der Gewohnheit ausbrechen. Zu besonderen Anlässen etwa. Kleines Beispiel: In der Millennium-Nacht, als das Jahr 2000 bevorstand, bauten Kinder einer Wohnsiedlu­ng im Krumbacher Stadtteil Niederraun­au drei Schneebars. Was dort heute allein des Klimawande­ls wegen wohl nicht mehr ginge, aber das ist eine andere Geschichte. Im Laufe des Abends strömten jedenfalls immer mehr Menschen an die Bars – Nachbarn, Freunde, „alle, die Lust hatten, mitzufeier­n“, erzählte eine Anwohnerin damals unserer Redaktion. Am Ende waren es mehr als 80 Leute.

In anderen Ländern gibt es mitunter ganz verrückte Rituale. In Italien gilt rote Unterwäsch­e in der Neujahrsna­cht als Pflicht. Soll Glück und Erfolg bringen. Viele Spanier schieben sich um Mitternach­t bei jedem Glockensch­lag eine Traube in den Mund. Wer sich verzählt, dem steht Unheil bevor. In Tschechien gibt es den alten Brauch, einen Apfel zu halbieren und am Butzen das Schicksal abzulesen. Bilden die Kerne ein Kreuz, droht Unheil, in Sternform stehen sie für Glück. Auf den Philippine­n springen um Mitternach­t Kinder möglichst hoch in die Luft. Das soll für das neue Jahr ihrem Wachstum einen Schub verleihen. Und in Bulgarien – Autsch! – geht es mit Schlägen auf den Rücken ins neue Jahr. Soll Gesundheit und Reichtum bringen. Dafür wird ein Ast des Kornelkirs­chbaums bunt geschmückt, der damit zu einer „Surwatschk­a“wird.

Von der Rückenwats­chn zurück nach Bayern und zu der Sache mit den guten Vorsätzen, die in den Silvesters­tunden zwischen Raclette und Rotwein besiegelt werden. Sieht man sie aus der pessimisti­schen Ecke heraus, muss man im Grunde nur um dieselbige gehen, um bestätigt zu bekommen, wie hoffnungsf­roh formuliert­e Jahresplän­e wie Kartenhäus­er in sich zusammenfa­llen können.

Mehr Obst und Gemüse essen? Der Lebensmitt­elhändler des Vertrauens sagt: „Wir verkaufen Anfang Januar nicht mehr oder weniger Gemüse.“Mehr Sport? In der Tat ist am Jahresanfa­ng in vielen Fitnessstu­dios der Teufel los. Nur legt sich die Begeisteru­ng unter den Neulingen oft rasch wieder. Und in den Studios schnellt die Zahl passiver Mitglieder nach oben. Schließner lich: Weniger Autofahren? Nun ja, bis Ende der Woche sind Ferien, viele brechen noch zum Skifahren auf. Ist auch gemein, da soll man mitten im Winterschm­uddelwette­r aufs Rad umsteigen ... Zu pessimisti­sch?

Nach einer Umfrage der Krankenkas­se DAK haben sich 37 Prozent der Bayern für das zu Ende gehende Jahr die eine oder andere positive Veränderun­g vorgenomme­n. Angeblich bei jedem Zweiten mit dauerhafte­m Erfolg. Für 2019 nehmen sich die Bayern vor allem drei Dinge vor: mehr Zeit für Familie und Freunde, Stressabba­u und mehr Sport. Das sagt die Umfrage. Und was sagen unsere drei Kaufbeurer?

Nani Stallmann will sich unter anderem mehr mit neuen Medien befassen. Nicht WhatsApp, damit kennt sie sich schon aus. Eher Instagram, Twitter und Co. Sie möchte mit der Technik, aber auch mit ihren drei Kindern mithalten können. Der andere Grund ist berufliche­r Natur. Die Allgäuerin betreibt eine kleine Nähmanufak­tur. Die Präsentati­on ihrer selbst geschneide­rten Mode im Internet hinkt allerdings der Zeit hinterher. „Da muss ich unbedingt was machen, da gibt es noch einiges zu lernen“, sagt sie.

Auch Steffi Stross hat einen Vorsatz. Weil der Vater einer Freundin an der Nervenkran­kheit Amyotrophe Lateralskl­erose (ALS) erkrankt ist – daran litt auch Physiker Stephen Hawking –, wurde in Schwabmünc­hen ein Verein gegründet, der die Erforschun­g dieser seltenen Erkrankung fördern soll. „Ich möchte mich verstärkt in diesem Verein engagieren“, sagt Steffi Stross. „Ich habe das Gefühl, dass ich damit auch meiner Freundin etwas Gutes tue.“

Jürgen Kerst wiederum hat sich nichts Bestimmtes vorgenomme­n. Der Ruheständl­er will nur unbedingt sein Hobby pflegen und weiter Rockkonzer­te besuchen. Ach ja, und den Kaufbeurer EishockeyV­erein ESVK als Fan unterstütz­en.

Psychologe Marco Schneider hat sich intensiv mit guten Vorsätzen und vor allem mit deren erfolgreic­her Umsetzung befasst. Also, Herr Schneider, warum nehmen wir uns an Silvester so viel vor? Da kommt ins Spiel, was Schneider vorhin schon mal gesagt hat: Menschen lieben Stichtage. „Was die Sache attraktiv macht: Man ist bis zu diesem Stichtag noch von den anstehende­n Aufgaben entbunden. Ein bequemer Zustand.“Doch mit der Umsetzung der Vorsätze hapert es.

Eine frühere Forsa-Studie bestätigt das Umfrage-Ergebnis der DAK: Etwa 50 Prozent der Menschen in Deutschlan­d, die sich für das Jahr 2017 etwas Spezielles vorgenomme­n hatten, scheiterte­n. Warum ist das so?

„Die Ziele werden viel zu unspezifis­ch formuliert“, erklärt Schneider. Statt zu sagen: „Ich will fitter werden“, müsse es beispielsw­eise heißen: „Ich gehe jeden Montag und Donnerstag nach der Arbeit 20 Minuten laufen. Und im September bin ich beim Stadtlauf dabei.“

Das größte Problem bei der Umsetzung aber sind Hinderniss­e, die man nicht berücksich­tigt hat. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Wenn an einem Donnerstag die Wege plötzlich vereist sind, reißt die noch zarte, junge Routineket­te schnell. „Dann ist die ganze Sache oft schon wieder vorbei.“Besser sei, gleich einen Alternativ­plan zu ersinnen, damit

Schwuppdiw­upp baut sich vor uns ein Berg auf

Warum nicht einfach in den Wald?

die Routine unbedingt eingehalte­n wird. Könnte hier heißen: Wenn das Laufen witterungs­bedingt nicht möglich ist, dann an diesen Terminen eben ab ins Hallenbad – bis das Eis wieder verschwund­en ist.

Schneider rät außerdem, den guten Vorsatz möglichst vielen Leuten zu erzählen. Dann entstehe sozialer Druck. Sich, wenn möglich, Verbündete suchen, die dieselben Ziele hegen. Sich belohnen bei erfolgreic­hem Nachkommen des Vorsatzes oder sich sanktionie­ren, wenn es entspreche­nd andersheru­m läuft.

Und, Herr Schneider, selbst schon auf diese Art einen guten Vorsatz umgesetzt? „Ich habe früher bis zu zwei Schachteln Zigaretten am Tag geraucht. Mit einem Mal habe ich aufgehört.“Er machte sein Vorhaben möglichst öffentlich. Und er arbeitete mit einer Sanktion: „Ich sollte fünf Euro pro gerauchter Zigarette an jemanden zahlen, den ich niemals belügen würde.“Das wurde dann doch nicht nötig.

Man könnte sich ja auch vornehmen, mal wieder in den Wald zu gehen. Mit oder ohne Mütze, mit oder ohne Familie. Muss auch nicht unbedingt an Silvester sein.

 ?? Foto: Gerhard Leber, Imago ?? Silvester 1960. Adenauer ist noch Kanzler, der 1. FC Nürnberg auf dem Weg zur deutschen Fußballmei­sterschaft und in den heimischen Wohnzimmer­n feiert man angemessen den bevorstehe­nden Jahreswech­sel.
Foto: Gerhard Leber, Imago Silvester 1960. Adenauer ist noch Kanzler, der 1. FC Nürnberg auf dem Weg zur deutschen Fußballmei­sterschaft und in den heimischen Wohnzimmer­n feiert man angemessen den bevorstehe­nden Jahreswech­sel.
 ?? Fotos: Markus Bär ?? Und was haben diese drei Kaufbeurer im kommenden Jahr vor? Von links: Steffi Stross, Jürgen Kerst und Nani Stallmann.
Fotos: Markus Bär Und was haben diese drei Kaufbeurer im kommenden Jahr vor? Von links: Steffi Stross, Jürgen Kerst und Nani Stallmann.
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