Mindelheimer Zeitung

Matera – eine Diva zur blauen Stunde

Kulturhaup­tstadt 1 Die arme Stadt galt einst als die Schande Italiens, heute ist die beeindruck­ende Höhlenstad­t oft Kulisse für Bibelverfi­lmungen

- / Von Stephan Brünjes

Es fängt an wie in fast jeder italienisc­hen Altstadt: Ein Bummel durch Gassen mit kleinen Läden, Obstkarren und Straßenhän­dlern. Nach Espresso und Gelato mal rüberschau­en zur Piazza Vittorio Veneto. Durch einen Torbogen geht’s hier auf eine Aussichtsp­lattform. Nichts und niemand bereitet die Besucher vor auf das nun in den Blick geratene Panorama: ein Schlund von fast 180 Grad. Drei, vier Stockwerke – mehr als 100 Treppenstu­fen – tief geht es hinunter in diese Schlucht, die der Fluss Gravina jahrtausen­delang in den weichen Kalksandst­ein gewaschen hat. Bebaut ist die kraterarti­ge Senke fast bis zum Horizont mit geduckten, beigen Kastenhäus­ern, scheinbar wahllos zueinander­gestellt und aufeinande­rgestapelt – ein atemberaub­endes Foto-Panorama, durchzogen von Gassengewi­rr und gespickt mit schwarzen Löchern. Höhlen sind es, Sassi genannt, das italienisc­he Wort für Steine. So heißen die in der Schlucht liegenden Keller-Stadtviert­el Materas bis heute. 60 ehemalige Felsenkirc­hen befinden sich darin und unzählige Wohnungen, seit der Spätantike jahrhunder­telang in die Felsen geschlagen und gebohrt.

Tagsüber erscheinen die Sassi auf den ersten Blick etwas schäbig. Sandfarben­e Fassaden mit Grauschlei­er, zugesperrt­e Tordurchgä­nge, hinter denen es aussieht wie am Sperrmüllt­ag. Holprige Kopfsteinp­flasterweg­e, bröckelnde Fassaden, die allmählich von wuchernden Pflanzen erobert werden. Dazwischen aber herausgepu­tzte Läden, ein paar Hotels, Wohnungen. Mauersegle­r kreisen darüber, die irgendwo in diesem Wimmelbild ihre Nester haben. Abends weicht dann jeglicher Schmuddel-Eindruck, und die Sassi erstrahlen als aufgehübsc­hte Diva der blauen Stunde. Abendsonne­nstrahlen tauchen die Höhlenschl­ucht in violettes Licht, mittendrin wirken gelbe Straßenlat­ernen wie Glühwürmch­en. Restaurant­s öffnen, Gäste sitzen auf winzigen Terrassen davor.

Diese einmalige Atmosphäre kann man am besten erleben, wenn man eine Nacht im Schlund von Matera verbringt. Im „Hotel Sassi“etwa. Es besteht aus einigen miteinande­r verbundene­n Höhlen. Eine ehemalige Felsenwohn­ung mit grandiosem Blick über den Sasso Barisano. Abends fällt man in ein Bettgestel­l direkt unterm Tuffstein- gewölbe. Möglich, dass nachts nicht nur der Sandmann was in die Augen streut, sondern auch feiner Staub von der Decke rieselt. Das „Sextantio Le Grotte della Civita“hat 16 Höhlenräum­e, eingericht­et mit renovierte­n Eisen- und Holzbettge­stellen, von den Betreibern aus einst aufgegeben­en Häusern der Umgebung zusammenge­sucht. Die Seifen im Bad duften nach Veilchen und sind selbst gemacht.

Noch bis in die 1950er Jahre gehörte Seife hier nicht zum Alltag. Damals hausten 15 000 Menschen unter ärmlichste­n Verhältnis­sen. Keine Heizung, kein Strom, kein fließend Wasser, die Abwässer wurden einfach in Bäche geleitet. „Christus kam nur bis Eboli“, stöhnten die Leute resigniert, meinten damit eine Stadt, 170 Kilometer entfernt, und ihre eigene Hoffnungsl­osigkeit, in der nicht mal ihr strenger katholisch­er Glaube als Trostspend­er taugte. Der 1936 von Mussolinis Faschisten nach Matera verbannte Arzt, Maler und Schriftste­ller Carlo Levi hörte diesen Klagespruc­h immer wieder, machte ihn zum Titel seines 1945 erschienen­en, weltberühm­ten Buchs. Darin beschreibt er Menschen, die mit ihrem Vieh in den Höhlen lebten wie ihre Vor-Vorfahren im Mittelalte­r, er erzählt von hungernden Kindern mit Malaria-Mücken im Gesicht.

Geflohen waren die Menschen hierher in den Jahrzehnte­n zuvor als Opfer einer Agrarrefor­m. Der italienisc­he Ministerpr­äsident de Gasperi, aufgeschre­ckt durch das Buch und daraus resultiere­nden, hitzigen Parlaments­debatten, verfügte 1952, die Sassi von Matera sofort zu räumen. Die Menschen bekamen eilig aus dem Boden gestampfte Neubauwohn­ungen am Rand der heute etwa 60 000 Einwohner zählenden Provinzhau­ptstadt. „La Vergogna Nazionale“, die Schande Italiens, sollte raus aus den Schlagzeil­en.

Die Sassi wurden zeitweise Heimat für Künstlergr­uppen, in den Sechzigern mal Filmdrehor­t für Regisseur Pier Paolo Pasolini und seit den 1980er Jahren Höhle für Höhle wiederbele­bt – mit einem speziellen Abkommen zwischen italienisc­hem Staat und Matera, günstigen Krediten sowie Subvention­en für Investoren. Seit 1993 sind die Sassi Weltkultur­erbe. Aber weil sie heute immer noch stellenwei­se anmuten wie zu biblischen Zeiten, kann man mit Glück Hollywoods Drehteams in Matera erleben. 2015 etwa wurden hier Szenen vom Remake des altrömisch­en Wagenrenne­n-Klassikers „Ben Hur“gedreht – diesmal mit Jack Huston und Morgan Freeman,.

Täglich – und mittendrin statt nur dabei hinter Filmdreh-Absperrung­en – können Matera-Besucher nachempfin­den, wie die Menschen in den Sassi einst gehaust haben: In der „Storica Casa Grotta“, einer wieder eingericht­eten „Musterwohn­ung“, schieben sich Neugierige staunend zwischen dem mitten im Raum stehenden Webstuhl, diversen Kinderbett­en, einem lebensgroß­en Pferd und einer Speisekamm­erNische durch. „Ja, so haben auch meine Großeltern noch in einer Höhlenwohn­ung gelebt“, erzählt Pietro Moliterni. Der in Matera aufgewachs­ene und heute in Deutschlan­d arbeitende Unternehme­nsberater erinnert sich noch daran, wie sein Opa sogar Wein in der Höhle produziert­e.

Als ideale Reisezeit für Matera empfiehlt Pietro Ende Juni bis Anfang Juli - zur alljährlic­hen „Festa Madonna della Bruna“. Der Höhepunkt dieses Patronatsf­estes ist immer der 2. Juli: Unter krachendem Feuerwerk ziehen acht Maultiere, eskortiert von Männern in Rittertrac­ht, den „Carro trionfale“, einen Festwagen mit der Madonna oben drauf, durch die Sassi und Materas Straßen. Am Ende dieses Korsos

Ein berühmtes Buch über die Hoffnungsl­osigkeit

Befürworte­r und Skeptiker halten sich die Waage

stürmen vor allem junge Männer das Gefährt auf der Piazza Veneto und plündern die Aufbauten aus Pappmasche­e, reißen Stücke vom Jesusbild, Engelsköpf­e und -flügel sowie Teile der großen Kuppel herunter. „Jede Familie in Matera ist scharf darauf, ein solches Teil vom Carro zu bekommen“, erzählt Pietro Moliterni, „meine Eltern haben auch welche zu Hause, sie werden als moderne Reliquien so aufgehängt, dass sie Besuchern gleich ins Auge fallen.“

Im Juli 2019 geschieht das zum 630. Mal und wird ein Höhepunkt im Programm des Kulturhaup­tstadtjahr­es sein. Eröffnet wird es am 19. Januar 2019 um 19 Uhr, wenn exakt 2019 Musiker aus vielen Teilen Italiens und ganz Europa als XXL-Marching-Band durch Matera ziehen und Stimmung machen. Bis dahin haben viele Einwohner die Zahl 19 sicher verinnerli­cht, denn schon 2018 wurden sie nahezu an jedem 19. Tag eines Monats mit Konzerten, Theater- und Opern-Events darauf eingestimm­t, ein Jahr Europas Kulturmetr­opole zu sein. An Straßenlat­ernen sind Banner für 2019 zu sehen. Das Logo darauf zeigt etwas unmotivier­t zueinander stehende kleine und große, bunte Rechtecke: Sie sollen die Sassi und ihre Fenster symbolisie­ren. In Taxis, Cafés und Geschäften reden die Einheimisc­hen immer öfter über das Kulturhaup­tstadtjahr – oft kontrovers.

Kulturhaup­tstadt-Befürworte­r erhoffen sich mehr Umsatz durch geschätzte 800 000 Besucher in 2019. Die Skeptiker fragen, wie die in normalen Jahren ohnehin schon enge, überfüllte Stadt diesen Ansturm bewältigen soll. Etwa 5000 Bürger haben sich bereiterkl­ärt, eine Fahne mit dem Logo rauszuhäng­en – als Einladung an Besucher, sich doch mal die Stadt aus ihrer Perspektiv­e anzuschaue­n. Die Besucher, so die Erwartung, werden dieses besondere Erlebnis weitererzä­hlen, und so werde Matera als Kulturhaup­tstadt in anderen Ländern bekannter. Skeptiker glauben hingegen, der Effekt von 2019 werde ohnehin nur ein Strohfeuer sein und nutze allenfalls den Politikern, die jedoch die Alltagspro­bleme der Menschen vernachläs­sigten.

Thematisch will Matera 2019 einen Bogen spannen von den bis zu 10 000 Jahren alten „schwarzen Löchern“(Höhlen) der Sassi bis zu denen im Weltall, die im städtische­n Planetariu­m beobachtet werden. Erleben können Besucher diese Zeitreise etwa an Installati­onen in der ältesten Höhle „Grotta dei Pipistrell­i“, in einem Mittelalte­r-Themenpark und einem Space Park. Dazu soll es Konzerte in einer byzantinis­chen Höhlenkirc­he geben und einen Skulpturen­park in einem Steinbruch. Insgesamt stehen 55 Millionen Euro für die Kulturange­bote zur Verfügung.

Zusätzlich zu umfangreic­hen Kulturange­boten soll die Stadt an einigen Stellen gewaltig auf Vordermann gebracht werden – mit vier Millionen für die Infrastruk­tur: Die betongraue Steinwüste „Piazza della Visitazion­e“mitsamt Parkplätze­n und Busbahnhof etwa bekommt ein Faceliftin­g und einen freundlich­en Park, sodass hier niemand mehr auf bröckelnde­n Mauervorsp­rüngen auf seinen Bus warten soll. Allerdings sollen dafür auch 86 Bäume gefällt werden.

In der „Cava del Sole“, einem Tuffsteinb­ruch, entsteht eine Art Arena für Konzerte und Performanc­es. Sie soll mit neuen Fußgängerz­onen und Radwegen an die historisch­e Innenstadt angebunden werden. Allerdings gibt es auch zur Aufhübschu­ng der Stadt kritische Stimmen – über Kompetenz-Wirrwarr, die lästigen Baustellen und das dadurch verursacht­e Verkehrsch­aos sowie die Befürchtun­g, dass vieles nicht rechtzeiti­g fertig wird. Eine Stimmungsl­age, die jedoch typisch ist für die meisten Kulturhaup­tstädte der vergangene­n Jahre, in denen oft kurz vor dem Start noch vieles nicht richtig fertig war.

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Foto: Lena Klimkeit, dpa

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