Tournee der neuen Klickwinkel
Klick. Ob auf dem Boden, ob in der Luft, ob an Seilen, auf Stativen, an Helmen oder in den Händen. Wie nie zuvor waren Kameras allgegenwärtig beim Auftakt der Vierschanzentournee in Oberstdorf. Freilich geht das Geräusch in den Massen unter – tausende Lichter, Blitze und flache Fotoapparate, als verlängerter Arm angewachsen, vermitteln uns das sichtbare „Klick“. Rein statistisch ist dieses „Klick“nüchtern erzählt: 55 LiveKameras sind für das Fernsehen vor Ort, 65 akkreditierte Bildjournalisten tummeln sich rund um die Schattenbergschanze und 25 500 potenzielle Fotografen auf den Rängen warten mit dem Finger am Auslöser. Alle auf der Jagd nach dem besonderen Augenklick.
Und die Fotojagd beginnt lange vor der Weitenjagd der Athleten. Ein „Klick hinter die Kulissen“: Karl Geiger macht sich im Springerlager warm, „Klick“. Während vier Fotografen das Stretching des Lokalmatadors festhalten, wird dieses Prozedere auf der Videowand sowohl im Lager als auch im Stadion übertragen. Die Smartphones werden gezückt, die Leinwand mit dem Fotografen wird abfotografiert. „Klick, klick“.
Im Stadion unten, Objektive, wohin man sieht, das Leuchten, durchdringend – selbst wenn man nicht hinsieht. Ein „Klick in der Optik“. Wenn der Athlet mit der Prozedur beginnt, erhöht sich die Klickfrequenz. Das Zurechtrücken der Brille, das Abdrücken vom Balken – je näher der Athlet dem Schanzentisch kommt, umso mehr „Klicks“kassiert er. Absprung, „Klick, klick, klick.“In der Luft begleitet ihn die „Cat-Cam“an einem gespannten Drahtseil – es gibt kein „Klick“, aber die ganze Welt ist dabei.
Und auf den Tribünen schreien 25 500 Fans „Zieeeeeeeh“– in ihr Handy-Display. Die Landung, Schnee staubt auf – ein besonders spektakulärer Augenklick. Ob Jubelschrei oder ob Frustabwinker: Jetzt geht’s an die Emotionen. Vorbei am TV-Kamera-Mann im Auslauf durchfährt der Athlet wie eine Kugel das Roulette, flankiert von einer Bande mit dutzenden Kameras – es gibt kein Halten: „Klick, klick, klick.“
Nach dem Spießroutenlauf vorbei an TV-Stationen erreichen die Athleten die schreibende Zunft. Und auch wir ertappen uns dabei, als Noriaki Kasai für Interviews in die Mixedzone kommt. Die Smartphones werden gezückt für eine Aufnahme aus 50 Zentimetern. Menschlich, klar – immerhin steht eine Legende vor uns.
Als der 46-jährige Japaner verschwindet, zucke ich zusammen: Ich habe nicht Kasai angesehen, sondern mein Handy. Reizüberflutung hat uns das Genießen verlernen lassen. Das Display vermittelt nur selten eine Gänsehaut. Wir aber halten Momente fest, um sie mit den Menschen zu teilen. Um sich den Menschen mitzuteilen. Später enden sie als digitale Leiche im Mikrokosmos einer SD-Karte.
Als ich mich schüttle, bemerke ich, wie Karl Geiger wenige Meter neben mir zum Taschentuch greift. Dutzende Finger zucken am Auslöser. Ich wende meinen Blick ab, denn gerade segelt der Japaner Ryoyu Kobayashi auf 141 Meter – live, vor meinen Augen. Und ich bekomme Gänsehaut.