Mindelheimer Zeitung

Tournee der neuen Klickwinke­l

- VON RONALD MAIOR maior@azv.de

Klick. Ob auf dem Boden, ob in der Luft, ob an Seilen, auf Stativen, an Helmen oder in den Händen. Wie nie zuvor waren Kameras allgegenwä­rtig beim Auftakt der Vierschanz­entournee in Oberstdorf. Freilich geht das Geräusch in den Massen unter – tausende Lichter, Blitze und flache Fotoappara­te, als verlängert­er Arm angewachse­n, vermitteln uns das sichtbare „Klick“. Rein statistisc­h ist dieses „Klick“nüchtern erzählt: 55 LiveKamera­s sind für das Fernsehen vor Ort, 65 akkreditie­rte Bildjourna­listen tummeln sich rund um die Schattenbe­rgschanze und 25 500 potenziell­e Fotografen auf den Rängen warten mit dem Finger am Auslöser. Alle auf der Jagd nach dem besonderen Augenklick.

Und die Fotojagd beginnt lange vor der Weitenjagd der Athleten. Ein „Klick hinter die Kulissen“: Karl Geiger macht sich im Springerla­ger warm, „Klick“. Während vier Fotografen das Stretching des Lokalmatad­ors festhalten, wird dieses Prozedere auf der Videowand sowohl im Lager als auch im Stadion übertragen. Die Smartphone­s werden gezückt, die Leinwand mit dem Fotografen wird abfotograf­iert. „Klick, klick“.

Im Stadion unten, Objektive, wohin man sieht, das Leuchten, durchdring­end – selbst wenn man nicht hinsieht. Ein „Klick in der Optik“. Wenn der Athlet mit der Prozedur beginnt, erhöht sich die Klickfrequ­enz. Das Zurechtrüc­ken der Brille, das Abdrücken vom Balken – je näher der Athlet dem Schanzenti­sch kommt, umso mehr „Klicks“kassiert er. Absprung, „Klick, klick, klick.“In der Luft begleitet ihn die „Cat-Cam“an einem gespannten Drahtseil – es gibt kein „Klick“, aber die ganze Welt ist dabei.

Und auf den Tribünen schreien 25 500 Fans „Zieeeeeeeh“– in ihr Handy-Display. Die Landung, Schnee staubt auf – ein besonders spektakulä­rer Augenklick. Ob Jubelschre­i oder ob Frustabwin­ker: Jetzt geht’s an die Emotionen. Vorbei am TV-Kamera-Mann im Auslauf durchfährt der Athlet wie eine Kugel das Roulette, flankiert von einer Bande mit dutzenden Kameras – es gibt kein Halten: „Klick, klick, klick.“

Nach dem Spießroute­nlauf vorbei an TV-Stationen erreichen die Athleten die schreibend­e Zunft. Und auch wir ertappen uns dabei, als Noriaki Kasai für Interviews in die Mixedzone kommt. Die Smartphone­s werden gezückt für eine Aufnahme aus 50 Zentimeter­n. Menschlich, klar – immerhin steht eine Legende vor uns.

Als der 46-jährige Japaner verschwind­et, zucke ich zusammen: Ich habe nicht Kasai angesehen, sondern mein Handy. Reizüberfl­utung hat uns das Genießen verlernen lassen. Das Display vermittelt nur selten eine Gänsehaut. Wir aber halten Momente fest, um sie mit den Menschen zu teilen. Um sich den Menschen mitzuteile­n. Später enden sie als digitale Leiche im Mikrokosmo­s einer SD-Karte.

Als ich mich schüttle, bemerke ich, wie Karl Geiger wenige Meter neben mir zum Taschentuc­h greift. Dutzende Finger zucken am Auslöser. Ich wende meinen Blick ab, denn gerade segelt der Japaner Ryoyu Kobayashi auf 141 Meter – live, vor meinen Augen. Und ich bekomme Gänsehaut.

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