Er lässt die Toten wieder sprechen
Für Dr. Horst Bock sind Tod und Verletzungen tägliche Wegbegleiter. Der 54-Jährige hat etwa 6000 Leichen obduziert. Oft geht es um die Frage: War es ein natürlicher Tod, ein Unglücksfall oder ein Verbrechen?
Memmingen Eine Leiche wird in den Sektionssaal im Keller des Memminger Klinikums gebracht. Der Notarzt konnte dem Mann nicht mehr helfen. Unklare Todesursache steht auf dem Leichenschein und die Staatsanwaltschaft hat eine Obduktion zur Ermittlung der Ursache angeordnet.
Fein säuberlich sind die Instrumente hergerichtet, mit denen Dr. Horst Bock nach der äußerlichen Besichtigung der unbekleideten Leiche arbeiten wird. Eine Beamtin der Kriminalpolizei hat dem Obduzenten bereits den bisherigen Ermittlungsstand mitgeteilt und wird die Sektion begleiten. Der Arzt wird wie vorgeschrieben Körperhöhlen öffnen und viele medizinische und polizeiliche Fragen beantworten müssen. War es ein natürlicher Tod, ein Unglücksfall oder hat jemand nachgeholfen? Sind Restalkohol oder Drogen im Blut des Toten nachweisbar?
Ist die Arbeit im Sektionssaal getan, beginnt die umfangreiche schriftliche Dokumentation sowie das Einholen weiterer Untersuchungsbefunde. Schließlich sind die Ergebnisse wichtig für das weitere Vorgehen von Kripo und Staatsanwaltschaft. Die Toten kann der Arzt zwar nicht mehr ins Leben zurückbringen, aber über die von ihm erhobenen Befunde sprechen sie in gewisser Weise doch zu den Lebenden. Oft kann auf diese Weise ein zunächst unerklärliches Todesgeschehen aufgeklärt und dadurch die Trauerbewältigung der Angehörigen unterstützt werden.
Dr. Bock ist Rechtsmediziner mit Leib und Seele. Mittlerweile sind es fast 6000 Leichen, die der 54-Jährige obduziert hat. Der Arzt gehört zum Oberlandesgericht München, hat jedoch seinen Dienstsitz am Memminger Landgericht. Sein Zuständigkeitsbereich umfasst die Landgerichtsbezirke Memmingen und Kempten.
Bock war vor seinem Medizinstudium examinierter Krankenpfleger. Eigentlich wollte er Hals-NasenOhren-Arzt werden. Aber während seines Studiums habe er als Hilfskraft am rechtsmedizinischen Institut Erlangen gearbeitet und festgestellt, dass es dort viel interessanter „Die Rechtsmedizin hat mich immer fasziniert und ist eine echte medizinische Querschnittsaufgabe mit immer wieder neuen interessanten Fragestellungen“, begründet der gebürtige Oberfranke seine Berufsentscheidung. Außerdem sei die Arbeit mit Leichen und Todesermittlungen nur ein Teil seiner tägli- chen Arbeit. Tatsächlich wendet der Medizinaldirektor sehr viel Zeit für die Erstellung von Gutachten auf, die er meist auch vor Gericht vertreten muss. Jährlich kommt er in beiden Landgerichtsbezirken auf etwa 100 Gerichtstermine, was einen enormen Zeitaufwand bedeutet. Auftraggeber sind die Staatsanwaltist. schaften und Gerichte. Sehr häufig sind Fragestellungen zu Alkohol und Drogen, sowie Tatrekonstruktionen und die Einschätzung der Gefährlichkeit von Tathandlungen. Teilweise wird der Mediziner von der Polizei auch unmittelbar zum Tatort gerufen. Neu hinzugekommen sind Anfragen von Behörden über das tatsächliche Alter eines Beschuldigten.
„Tatort“-Kommissar Frank Thiel und Professor Dr. KarlFriedrich Boerne sorgen mit komödiantischen Krimis für hohe Einschaltquoten in der ARD. Mit der Realität, so Dr. Bock, habe das aber wenig bis nichts zu tun. Natürlich bestehen regelmäßige Kontakte zu Polizei und Justiz, aber der Mediziner kann schon aus Zeit- und Rechtsgründen nicht eigenständige Ermittlungen durchführen. Wichtiger ist Bock, dass der Fachrichtung Rechtsmedizin ein noch stärkerer Stellenwert eingeräumt wird. An den Universitäten müssten die
Viele Tötungsdelikte bleiben unentdeckt
rechtsmedizinischen Institute finanziell deutlich besser ausgestattet werden. Studien belegen, dass viele Tötungsdelikte und Kindesmisshandlungen unentdeckt bleiben. Die Gesellschaft müsse daran interessiert sein, alle nicht natürlichen Todesfälle aufzuklären. Und dies gehe eben nur durch eine deutliche Erhöhung der Obduktionsquoten.
Auch bei den ärztlichen Leichenschauen sieht der erfahrene Rechtsmediziner Handlungsbedarf. In Frankfurt und Bremen wurde ein Projekt gestartet, bei dem Leichenschauen nur Rechtsmediziner oder besonders qualifizierte Ärzte durchführen dürfen. Der Hausarzt oder Notarzt darf hierbei nur noch eine vorläufige Todesbescheinigung ausstellen. „Dieses Modell würde uns deutlich weiterbringen.“
Wer jetzt vermutet, dass sich Dr. Bock ausschließlich mit morbiden Gedanken beschäftigt, der irrt. Der verheiratete Vater von zwei Söhnen ist ein fröhlicher Mensch und hat eine Leidenschaft für Pferde. Er ist stolzer Besitzer einer Stute, mit der er sich bei ausgedehnten Ausritten am besten erholen kann. Mit den Pferden hängt wohl auch seine Liebe zu Karl May-Werken zusammen. Folgerichtig arbeitet Dr. Bock ehrenamtlich als Lektor für die literarische Karl-May-Gesellschaft. Und seine Lebensphilosophie lautet angesichts seiner beruflichen Erfahrungen: Genieße jeden Tag, da jeder Tag der letzte sein könnte.