Erst der Streit macht Politik lebendig
Die Union streichelt ihre konservative Seele, die SPD rückt nach links. Wie passt das in einer Koalition zusammen? Gut. Denn unterscheidet sich Politik, dann lebt sie
Man soll Meinungsumfragen nicht überbewerten. Aber zur Meinungsbildung können sie durchaus beitragen. Deshalb ist bemerkenswert, was gerade der neue ARD-Deutschlandtrend ergeben hat: Fast drei Viertel der Deutschen registrieren in der hiesigen Politik wachsende inhaltliche Unterschiede – und bessere Unterscheidbarkeit zwischen SPD und CDU. Wichtiger noch: Genau so viele Prozent finden diese Entwicklung gut, weshalb beide Volksparteien auch in der Umfrage leicht zulegten.
Ein Prozentpunkt mehr ist noch keine Renaissance und gewiss nicht Ausdruck neuen Urvertrauens in die große Gestaltungskraft der Großen Koalition. Aber nach so viel Gerede über „bleierne Jahre“, so vielen Beschwerden über die angebliche Leerlauf-Koalition, so vielen Vorwürfen über die vermeintlich angeborene Unfähigkeit von Politikern, gilt es auch einmal festzuhalten: Politik bewegt sich doch. Und: Politik kann durchaus noch bewegen.
Denn diese neue Unterscheidbarkeit der deutschen Politik ist ja eine von Menschen gewollte. Erst war es die Union, die sich eine höchst demokratische Nachfolgesuche verordnete – und in einem Werkstattgespräch über die Migrationspolitik selber auf die Couch legte. Der Satz von Annegret Kramp-Karrenbauer, notfalls würden die Grenzen bei einer Neuauflage der Flüchtlingskrise dichtgemacht, wärmte die konservative Seele. Wäre dieser Satz schon vor einem Jahr gefallen, hätte man sich viel unionsinternen Streit wohl sogar ersparen können.
Umgekehrt ist die SPD nach qualvoll langer Psychoanalyse von jener Couch aufgestanden, auf der dick „Hartz IV“stand. Diese Sozialreformen haben Deutschland vorangebracht und zum aktuellen Boom beigetragen. Sie haben jedoch auch die Sozialdemokratie im Innersten zerrissen. Dank des Linksrucks, den sich die Partei verordnet hat, kann sich das sozialdemokratische Herz etwas erholen.
Zerreißt dieser Doppel-Ruck nun die Koalition? Nicht unbedingt. Eine Koalition ist keine Liebesheirat, schon gar nicht diese. Zudem wirken beide Partner stärker, je authentisch-abgrenzbarer sie auftreten – und nicht als das „System Großpartei“gelten.
Deswegen müssen die neue Schärfung der politischen Markenkerne vor allem jene fürchten, die vom Hass auf Volksparteien vor allem profitieren – die Linke und die AfD. Beide haben außer Protest nicht viel zu bieten. Deswegen dürften sie nun schwächer werden. Darauf können wir im weltweiten Vergleich durchaus stolz sein.
Das darf uns aber nicht genügen. Denn in rund drei Monaten wählt Europa – wo unter anderen Vorzeichen ähnliche Herausforderungen warten. Auch dort ist keineswegs mehr klar, ob nicht nach der Wahl die Radikalen rechts und links eine Mehrheit im Parlament stellen – und Volksparteien, wie etwa die EVP (für die der Bayer Manfred Weber als Spitzenkandidat antritt), an den Rand geraten.
Daher muss auch der Europawahlkampf werden, was er zuletzt nie war: feurig, hitzig, leidenschaftlich. Gar konfrontativ.
Themen gibt es ja genug: Will Europa eine gemeinsame Außenpolitik, und wenn ja: welche? Wie müsste eine abgestimmte Energiepolitik aussehen? Soll man Facebook und Google vergöttern oder verhauen – und wie könnten europäische Tüftler ihnen Konkurrenz machen? Und, ganz aktuell: Sollen wir einen Herrscher wie Orbán umarmen oder doch isolieren?
Wer darüber streitet, redet Europa nicht kaputt. Sondern zeigt den Ländern, die sich den Populisten ergeben haben: Produktiver politischer Streit lähmt Politik keineswegs. Er macht sie erst lebendig.
Auch um den Kurs in Europa muss gestritten werden