Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (67)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat.
Einen säumigen Zahler zu mahnen, einen Lebensmittellieferanten, dem sie ihrerseits Geld schuldete, zu vertrösten, einer jungen Dame, der sie vor zwei Jahren ein Grammophon auf Raten überlassen hatte und die momentan im Krankenhaus lag, zu bedeuten, daß das Instrument wegen Nichteinhaltung der Bedingungen, es waren noch zwei Raten fällig, zurückzugeben sei, ein Korsett zum Ausbessern mitzunehmen, eine Flasche Benzin aus der Drogerie zu besorgen, aufs Meldeamt zu gehen und eine Adresse zu erfragen, am Schönhauser Tor sich nach einem Predigtamtskandidaten Klapprot zu erkundigen und anderes mehr. Er tat es willig. Seine Heiterkeit blieb immer die gleiche. Er ging und ging, wohin man ihn auch schickte. Selten benutzte er ein Verkehrsvehikel, erstens wollte er sparen, zweitens fesselte ihn das Unterwegs. Er kam von belebten Vierteln, wo unzählige Menschen kalt, böse und eilig aneinander vorüberstießen, in die öden, wo Gasanstalten,
Laubenkolonien, Gefängnisse, Spitäler, Fabrikschlote und Kirchhöfe den Eindruck machten, als befinde man sich in einer gigantischen Folterkammer mit gigantischen Folterwerkzeugen und daneben seien schon die Verliese und die Gräber. Er stand in Stuben, wo die Nässe von den Mauern rann, in Kellerwohnungen, wo am Abend Kerzen in Flaschenhälsen steckten und immer jemand fieberkrank auf einem mit Lumpen bedeckten Sofa lag. Er sah Kinder mit Runzeln im Gesicht, die vielleicht noch nie einen Baum, eine Wiese erblickt hatten, und wenn er mit einem von ihnen redete, war’s, als mokiere er sich über sich selbst, weil er nicht ebenso verhungert und verwahrlost war. Einmal mußte er sich vor dem Hause der Heilsarmee durch eine Schar von Arbeits- und Obdachlosen drängen, und er ging durch die schauerlich stille Versammlung mit einer Miene, so arglos, als bewege er sich unter seinen Kameraden auf dem Spielplatz. Das erwähnte Fräulein Else Grünau fand Gefallen an ihm, und es bedurfte seiner ganzen List und treuherzigen Schwatzhaftigkeit, um aus der Schlinge zu schlüpfen. Es hatte alles nichts auf sich, es war nicht des Hinschauens wert, solang jede Stunde für den Mann im Zuchthaus eine mehr war. Unerbittlich wie die Uhr. Der Gedanke bewirkte, daß die Stunden zu steinernen Rädern wurden, unter deren Knirschen alles Leben der Erde seufzend verhauchte.
Er stand täglich um sieben auf, verließ um acht das Haus und kehrte am Abend zurück, um sechs oder um sieben, bisweilen noch später. Er mußte ja die Fiktion von seiner Sekretärstellung aufrechterhalten. Man fragte natürlich, bei wem er in Dienst sei. Bei einem Schriftsteller im Westend, Kastanienallee, sagte er und nannte einen erfundenen Namen. Es war unvorsichtig, Melitta Schneevogt hatte den Schneevogtschen Einfall, im Adreßbuch nachzusehen, und fragte ihn anderntags höhnisch, wie es seinem Chef gehe. Er begriff; nur nicht rot werden, dachte er, wurde auch nicht rot und entgegnete frech, der Name sei ein Pseudonym. „Sind Sie am Ende politisch? Spitzel vielleicht?“inquirierte ihn das Mädchen finster. „Wenn ja, dann machen Sie sich dünne, eh wir Schweinereien mit der Polizei kriegen.“
Nein, er sei nicht politisch, sagte er mit entwaffnendem Lächeln und entfernte sich aus dem Gesichtsfeld der unerfreulichen jungen Dame. Was tat er aber mit all der Zeit vom Morgen bis zur Speisestunde bei Frau Bobike und von eins oder halb zwei bis zum Abend? denn die übernommenen Aufträge waren immer bald erledigt. Nun, er ging und ging. Von den zwei Paar Schuhen, die er mithatte, waren nach einer Woche bei einem die Sohlen durchgelaufen, beim andern die Absätze schiefgetreten, man mußte sie reparieren lassen. Übler waren die Füße zugerichtet, die so unermüdlich drin marschierten, wund und voller Blasen, erst allmählich härteten sie sich und vernarbten. Da er vor Mitternacht nicht ins Bett kroch und dann noch in aussichtslosem Kampf gegen die Wanzen lag, hätte bei seiner zarten Konstitution diese Lebensweise seine Gesundheit schädigen müssen, wäre er nicht gespannt gewesen wie eine aufgezogene Feder. Er ging und ging, sinnierte, erwog, sammelte sich, schaute und ging. War er müde, so setzte er sich auf eine Bank vor der Charité oder im Humboldthain oder bei Regenwetter in einem der vielen Bahnhöfe. Manchmal zog er seine griechischen und Lateinhefte aus der Tasche und lernte, manchmal sagte er Gedichte vor sich hin, die er auswendig kannte, Verse von Rilke und George, manchmal las er in einem Band Melchior Ghisels.
Aber es hatte was Quälendes plötzlich, daß das nun kein körperloser Geist mehr war, daß ein erreichbarer Mensch dahinterstand, den er, wenn er nur den Entschluß faßte, noch heute sehen, vielleicht sogar sprechen konnte. Aber er dachte an den Besuch bei Ghisels, wie der Gottgläubige an eine Wallfahrt denkt, sich „entschließen“, das war schon zu klein, das mußte sein wie willenloser Flug, wie hingeschwemmt von einem Element – nur so verlosch die Furcht davor, dies Lampenfieber der Liebe; das Auge eines solchen Mannes war ja das Auge des Himmels selbst.
Unter Frau Bobikes Kostgängern befand sich auch ein verkrachter Student namens Schirmer. Er war eine Zeitlang Hilfslehrer an einer freien Schule gewesen, dort hatte man ihn wegen einer Skandalgeschichte davongejagt, nun suchte er Brot und Unterkommen. Er war am selben Tag wie Etzel Speisegast des Hauses geworden und saß mit ihm am selben Tisch, ein blonder, untersetzter, ziemlich versoffen und nicht sehr intelligent aussehender Mensch mit braunen Bartstoppeln im Gesicht, die wie Unreinlichkeit wirkten.
Er war Feuer und Flamme für den „kleinen Mohl“, wie sie ihn alle nannten, und wenn Etzel eine seiner trockenen Bemerkungen machte, sich über Weltzustände verbreitete, eine seiner Possen vollführte, zum Exempel einen schlecht aufgelegten Omnibusschaffner, einen stotternden Zeitungsausrufer nachahmte, stieß Schirmer ein wieherndes Gelächter aus, schlug mit der Faust zehnmal dröhnend auf den Tisch und schaute sich, gleichsam Applaus einsammelnd, im ganzen Raum triumphierend um. Wenn solch ein Anfall vorüber war, wischte er sich mit einem riesigen blauen Taschentuch die Tränen aus den Augen. Eines Mittags, es war gerade eine Woche verflossen, seit Etzel das Kosthaus frequentierte, brachte Schirmer im Gespräch mit dem Marinefachmann etwas selbstgefällig ein lateinisches Zitat an. Etzel lachte und ergänzte es durch die zweite Zeile des betreffenden Distichons, es war ein Horazisches, was in dem Fall ganz witzig war, freilich nur für ihn und den Studenten verständlich. Schirmer bekam den habituellen Verzückungsausbruch, dann sagte er: „Mohl, mir scheint, Sie haben die Schulbank doch nicht umsonst gedrückt, schad um Ihre Talente.“– „Warum schade?“erwiderte Etzel, „wenn man sie hat, können sie einem doch nicht schaden.
»68. Fortsetzung folgt